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Psychologische Interpretation. - Jochen Fahrenberg

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punkt in einem multidimensionalen Datenraum darstellt. Das unverwechselbare<br />

Merkmalsmuster eines Individuums zu erfassen und in geeigneten Begriffen zu<br />

beschreiben, wäre die Aufgabe der differentiellen Psychologie.<br />

Mit der biographischen Methodik soll dagegen der dynamische Zusammenhang<br />

dieser Merkmale unter dem Gesichtspunkt einer im Erleben und Verhalten<br />

einheitlichen Person, in einer durch Lebenslauf und Bedeutungssysteme eigengeprägten<br />

Welt konstruiert werden.<br />

William Stern (1900, 1911) hatte in seiner Grundlegung der Differentiellen<br />

Psychologie mehrere Arbeitsprogramme unterschieden: Variationsforschung,<br />

Korrelationsforschung, Komparationsforschung und die Psychographie, welche<br />

eine Individualität in Bezug auf viele Merkmale beschreibt. Zu dieser Sichtweise<br />

könnte eine Diskussion mit dem damals in Freiburg lehrenden Hugo Münsterberg<br />

beigetragen. Bevor er an die Harvard University berufen wurde, hatte Münsterberg<br />

(1891) einen programmatischen Aufsatz über die Dringlichkeit der differentiellen<br />

Psychologie als Forschungsthema und als Studieninhalt für alle<br />

Humanwissenschaftler publiziert. Er bezog sich dabei auf eigene statistische<br />

Ergebnisse einer Reihenuntersuchung über Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen<br />

von Schülern.<br />

In seinem Lehrbuch zur differentiellen Psychologie hat Stern (1900, 1911)<br />

einen Abschnitt über die Benutzung von Biographien geschrieben und im Anhang<br />

mehr als Hundert Biographien bzw. biographische Darstellungen einzelner<br />

Merkmale genannt. Demgegenüber fehlen in Diltheys (1907-1910) etwa gleichzeitig<br />

entstandener und von geisteswissenschaftlich orientierten Autoren gelegentlich<br />

noch zitierter Schrift über das Erleben und die Selbstbiographie gerade<br />

diese empirischen Grundlagen.<br />

Stern (1910/1911) sah einen wesentlichen Unterschied zwischen der synthetischen<br />

Leistung des Biographen bei der “Herausarbeitung des Bildes einer einheitlichen<br />

Individualität, die der Leser einfühlend mit- und nacherleben soll” (S.<br />

141) und dem analytischen Vorgehen des Psychologen, der die psychographische<br />

Methode verwendet. Unter ‘Psychographie’ verstehen wir – im Gegensatz zur<br />

Biographie – diejenige Methode der Individualitätsforschung, welche nicht von<br />

der Einheit, sondern von der Mannigfaltigkeit der im Individuum vorhandenen<br />

Merkmale ausgeht und diese – ausschließlich oder vorwiegend – nach psychologischen<br />

Gesichtspunkten ordnet. Diese psychographische Methode führt zu<br />

einem Psychogramm, welches die Grundlage für allgemeine und differentielle<br />

Fragestellungen der Psychologie liefert: die Struktur des Individuums zu erkennen,<br />

wichtige Vorarbeiten für eine Biographie zu leisten, Zwecken der praktischen<br />

Diagnostik zu dienen (S. 328).<br />

Auf die Beschreibung von Merkmalsunterschieden muss die Analyse ihrer<br />

funktionalen Zusammenhänge und Strukturen folgen. Für diese Zielsetzung, die<br />

zuvor meist als Charakterkunde bezeichnet wurde, ist seit Murray auch der<br />

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