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Psychologische Interpretation. - Jochen Fahrenberg

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Wer jedoch über diesen Arbeitskreis hinaus nach Anwendungen sucht, wird verhältnismäßig<br />

wenig finden. Thomae wird heute in den zahlreichen Publikationen<br />

zum interpretativ-qualitativen Paradigma bzw. zum biographischen Ansatz in den<br />

Sozialwissenschaften sowie in der Methodenlehre der Psychologie sehr selten<br />

zitiert. In den neueren Lehrbüchern der Persönlichkeitspsychologie kommt er (wie<br />

auch das Stichwort Biographik) in der Regel nicht vor – von der amerikanischen<br />

Literatur ganz zu schweigen. Selbst wenn sich in der Entwicklungspsychologie<br />

und Gerontologie eine andere Rezeption zeigt, bleibt die Frage nach den Gründen<br />

der geringen Beachtung innerhalb der Persönlichkeitspsychologie.<br />

An einer mangelnden Modernität kann es nicht liegen, denn in diesem Ansatz<br />

wurde ja seit Jahrzehnten das praktiziert, was Psychologen in der qualitativen<br />

Psychologie und Sozialwissenschaft als neueste Wunschvorstellung und Absicht<br />

proklamieren: eine Verbindung von interpretierenden (idiographischen) und typisierenden<br />

oder generalisierenden (nomothetischen) Verfahren herzustellen (siehe<br />

auch Rushton, Jackson & Paunonen, 1981). Im Umfang des erhobenen und ausgewerteten<br />

Materials, d. h. im Umfang der empirischen Grundlagen und Erfahrungen,<br />

übertrifft der Bonner Arbeitskreis zweifellos alle Anhänger der “qualitativen”<br />

Psychologie, vielleicht sogar deren Summe.<br />

Die Argumente für die Alltagspsychologie (Lehr & Thomae, 1991) treffen sich<br />

mit den Überzeugungen vieler Psychologen. Deshalb gibt es deutliche Entsprechungen<br />

mit den Absichten jener, die mit modernen Monitoring-Systemen,<br />

d. h. hand-held PC und physiologischen Mess-Systemen, eine alltagsnahe Psychologie<br />

und Psychophysiologie anstreben (siehe <strong>Fahrenberg</strong> & Myrtek, 2001a,<br />

2001b; <strong>Fahrenberg</strong> et al., 2002). Diese zunehmend praxisnah ausgebildete<br />

Arbeitsrichtung kann zwar keine psychologische Biographik leisten, doch führt<br />

sie zu ökologisch valideren, unter Alltagsbedingungen erhobenen Daten, die in<br />

einen größeren biographischen Kontext und in typische Assessmentstrategien<br />

einbezogen werden können.<br />

Ökonomie und Ausbildung<br />

Der biographische Untersuchungsansatz ist sehr aufwendig. Er verlangt<br />

Erfahrung und längeres Training und relativ viel Zeit. Die Methodik ist primär<br />

für Forschungszwecke konzipiert, und die zentralen Publikationen enthalten keinen<br />

ausdrücklichen Transfer auf alltägliche Anwendungen. So fehlt eine Auseinandersetzung<br />

mit der Frage, ob für bestimmte Zwecke des Assessments auch<br />

geeignete Kurzformen der psychologischen Biographik oder z. B. speziell angeleitete<br />

autobiographische Vorarbeiten hierfür sinnvoll wären. Welche Prinzipien<br />

oder Strategien sind hier vertretbar? Wo würden wesentliche Einsichten verletzt?<br />

Ginge Thomaes psychologische Biographik dann in ein gewöhnliches, halbstrukturiertes<br />

biographisches Interview über? Welches wären die in der Praxis zu<br />

beachtenden entscheidenden Unterschiede?<br />

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