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Picknick mit Baren - Bryson, Bill.pdf

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der Blätter des Vorjahres herausragen -Blutkraut, Wachslilien und Doppelsporn.<br />

Das Sonnenlicht sickerte durch die Zweige über uns und warf<br />

scheinwerferartig Lichtflecken auf den Weg, und in der Luft lag eine gewisse<br />

berauschende, charakteristisch frühlingshafte Leichtigkeit. Zuerst zogen<br />

wir unsere Jacken aus, dann folgten die Pullover. Die Welt war wieder ein<br />

freundlicher Ort.<br />

Am schönsten waren die Ausblicke rechts und links, herrlich und betörend.<br />

Der Blue Ridge sieht in seinem 650 Kilometer langen Verlauf durch Virginia<br />

im Grunde wie eine Rückenflosse aus.<br />

Er ist zwei bis drei Kilometer breit, hier und da <strong>mit</strong> tiefen, V-förmigen<br />

Durchlässen, den sogenannten Gaps versehen, ansonsten hält er sich<br />

gleichmäßig auf einer Höhe von knapp 1000 Metern. Im Westen erstreckte<br />

sich das breite, grüne Valley of Virginia, das bis zu den Allegheny Montains<br />

reicht, im Osten träger und ländlicher die Piedmontebene. Wenn wir<br />

uns hier auf einen Berggipfel schleppten und einen Aussichtsfelsen betraten,<br />

sahen wir keine haubenförmigen grünen Berge, die bis zum Horizont reichten,<br />

sondern blickten jedesmal aus luftiger Höhe hinab auf eine bewohnte<br />

Welt: sonnenbeschienene Farmen, kleine Dörfer, einzelne Waldstücke,<br />

Serpentinenstraßen, alles sehr idyllisch aus der Ferne. Selbst ein Interstate<br />

Highway <strong>mit</strong> seinen kleeblattförmigen Kreuzen und Querstraßen sah<br />

freundlich und besinnlich aus, wie die Illustrationen in den Kinderbüchern,<br />

die ich als kleiner Junge hatte und auf denen ein Amerika zu sehen war, das<br />

geschäftig und immer in Bewegung war, aber wiederum nicht allzu hektisch,<br />

um nicht seinen Reiz zu verlieren.<br />

Wir wanderten eine Woche lang und begegneten kaum Menschen. An einem<br />

Nach<strong>mit</strong>tag lernte ich einen Mann kennen, der den Trail seit 25 Jahren<br />

abschnittsweise <strong>mit</strong> Auto und Fahrrad absolvierte. Jeden Morgen brachte er<br />

das Fahrrad <strong>mit</strong> dem Auto zehn, 15 Kilometer weit ans Ziel der anstehenden<br />

Tagesetappe, begab sich <strong>mit</strong> dem Wagen an den Ausgangspunkt, das Ziel<br />

des Vortages, wanderte die Strecke zwischen beiden ab und fuhr <strong>mit</strong> dem<br />

Fahrrad wieder zurück zum Parkplatz. Das machte er jedes Jahr im April<br />

zwei Wochen lang und hatte sich ausgerechnet, daß er noch ungefähr 20<br />

weitere Jahre brauchen würde. An einem anderen Tag folgte ich einem<br />

älteren Mann, der bestimmt weit über Siebzig war. Er trug einen kleinen,<br />

altmodischen Tagesrucksack aus sandfarbenem Segeltuch und war <strong>mit</strong><br />

einem unglaublichen Tempo unterwegs. Zwei- bis dreimal in der Stunde sah<br />

ich ihn 40, 50 Meter vor mir zwischen den Bäumen auftauchen und wieder<br />

verschwinden. Obwohl er sehr viel schneller ging als ich und anscheinend<br />

nie eine Pause einlegte, war er stets da. Immer wenn man 40 bis 50 Meter<br />

weit blicken konnte, sah man ihn bzw. nur seinen Rücken, der gleich wieder<br />

wegtauchte. Als würde man einem Geist folgen. Ich versuchte ihn einzuho-

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