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Picknick mit Baren - Bryson, Bill.pdf

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Ende eines langen Wandertages – das blieb auch weiterhin so –, aber ich<br />

hatte einen Punkt erreicht, an dem die Schmerzen und die Blasen ein so<br />

zentrales Merkmal meiner Existenz waren, daß ich sie nicht mehr bemerkte.<br />

Wenn man die bequeme, klinische Welt der Städte verläßt und in die Berge<br />

zieht, durchläuft man jedesmal Phasen der Transformation – ein sanfter<br />

Abstieg in die Verwahrlosung – und immer kommt es einem so vor, als sei<br />

es das erste Mal. Am Ende des ersten Tages fühlt man sich etwas schmutzig,<br />

trägt es aber <strong>mit</strong> Fassung; am zweiten Tag verstärkt sich das Gefühl bis<br />

zum Ekel; am dritten Tag kümmert es einen nicht mehr; am vierten hat man<br />

vergessen, daß es mal anders war. Auch das Hungergefühl folgt einem bestimmten<br />

Muster. Am ersten Tag quält einen der Hunger auf die abendlichen<br />

Nudeln; am zweiten Abend quält einen der Hunger, aber nicht schon<br />

wieder auf Nudeln; am dritten Tag kann man keine Nudeln mehr sehen,<br />

aber man weiß, daß man was essen muß; am vierten Tag hat man überhaupt<br />

keinen Appetit, aber man ißt trotzdem etwas, weil man das abends eben so<br />

tut. Ich weiß auch nicht warum, aber das Ganze ist irgendwie angenehm.<br />

Und dann geschieht etwas, das einem deutlich macht, wie gerne, wie<br />

wahnsinnig gern man wieder in die zivilisierte Welt zurückkehren möchte.<br />

An unserem sechsten Tag, nach einem langen Marsch durch einen ungewöhnlich<br />

dichten Wald, kamen wir gegen Abend an eine kleine grasbewachsene<br />

Lichtung auf einer Steilklippe <strong>mit</strong> einer sensationellen, ungehinderten<br />

Aussicht nach Norden und nach Westen. Die Sonne ging hinter dem<br />

fernen, blaugrauen Kamm der Allegheny Mountains unter, und das Licht in<br />

der Landschaft davor – weites, regelmäßig angeordnetes Ackerland, <strong>mit</strong><br />

Baumgruppen und Farmhäusern – hatte gerade den Moment erreicht, in<br />

dem alle Farbe aus ihm weicht. Aber es war der Anblick einer Stadt, die<br />

ungefähr zehn, elf Kilometer Richtung Norden lag, der unsre Herzen höher<br />

schlagen ließ; eine richtige Stadt, die erste seit einer Woche. Von unserem<br />

Standort aus erkannten wir gerade noch die großen, hell erleuchteten bunten<br />

Schilder von Restaurants und Motels an einer Straße. Ich glaube, ich habe<br />

nie etwas annähernd so Schönes, annähernd so Verlockendes gesehen. Ich<br />

hätte schwören können, daß man den Duft von gebratenen Steaks roch, den<br />

uns die Abendbrise heraufwehte. Wir standen unendlich lange da und<br />

schauten auf die Stadt, als hätte man immer nur über sie gelesen, aber nie<br />

da<strong>mit</strong> gerechnet, sie einmal tatsächlich zu sehen.<br />

»Waynesboro«, sagte ich schließlich zu Katz.<br />

Er nickte feierlich. »Wie weit?«<br />

Ich holte meine Karte hervor und sah nach. »Ungefähr 13 Kilometer.«<br />

Er nickte wieder feierlich. »Gut«, sagte er. Das war, wie mir klar wurde, die<br />

längste Unterhaltung, die wir seit zwei, drei Tagen geführt hatten, und mehr<br />

brauchte auch nicht gesagt werden. Wir waren seit einer Woche unterwegs

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