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Picknick mit Baren - Bryson, Bill.pdf

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Was bleibt einem anderes übrig?<br />

Wenn man dann, nach unendlich langer Zeit, in die wirklich höheren Gefilde<br />

kommt, wo die kühle Luft nach Harz duftet, die Vegetation knorrig und<br />

zäh und windgebeutelt ist, und man bis zur kahlen Bergspitze vorgedrungen<br />

ist, kann einem nichts mehr etwas anhaben. Man legt sich flach auf den<br />

Bauch, streckt alle viere von sich, wird von dem Gewicht des Rucksacks auf<br />

das abschüssige, gneisige Gestein gepreßt, verharrt einige Minuten in dieser<br />

Position und sinniert auf sonderbar distanzierte, außerkörperliche Weise<br />

darüber, daß man Flechten noch nie aus solcher Nähe betrachtet hat, überhaupt<br />

noch nie etwas Natürliches so nahe gesehen hat, seit man vier Jahre<br />

alt war und seine erste Lupe geschenkt bekommen hatte. Schließlich rollt<br />

man <strong>mit</strong> einem matten Schnaufer auf die Seite, schnallt den Rucksack ab,<br />

rappelt sich hoch und erkennt – auch dies wie benommen, als wäre man<br />

nicht ganz anwesend –, daß die Aussicht spektakulär ist: bewaldete Berge,<br />

so weit das Auge reicht, unberührt von Menschenhand, in alle Richtungen.<br />

Es könnte himmlisch sein. Es ist herrlich, keine Frage, aber es kommt einem<br />

der Gedanke, vor dem es kein Entrinnen gibt, daß man sich nämlich<br />

diesen Ausblick zu Fuß erobern mußte und daß das nur ein Bruchteil dessen<br />

ist, was man noch durchwandern muß, um bis ans Ziel zu gelangen.<br />

Man vergleicht die Karte <strong>mit</strong> der umliegenden Landschaft und stellt fest,<br />

daß der Pfad steil in ein Tal hinabgeht – eigentlich eine Schlucht, den<br />

Schluchten nicht unähnlich, in die der Kojote in den Roadrunner-<br />

Zeichentrickfilmen immer abtaucht, Schluchten, deren Tiefpunkte sich im<br />

Nichts verlieren – und einen an den Fuß eines Berges bringt, der noch steiler<br />

und gewaltiger ist als der, auf dem man steht, und daß man seit dem<br />

Frühstück 2,73 Kilometer zurückgelegt haben wird, wenn dieser unsäglich<br />

beschwerliche Gipfel erklommen ist, während der Plan, den man sich zu<br />

Hause am Küchentisch so schön zurechtgelegt und nach höchstens drei<br />

Sekunden des Nachdenkens aufgeschrieben hatte, bis zum Mittagessen<br />

14,32 Kilometer, bis zum Abendessen glatte 27 Kilometer und für morgen<br />

noch größere Entfernungen vorsieht.<br />

Aber vielleicht regnet es ja auch, einen kalten, peitschenden, erbarmungslosen<br />

Regen, <strong>mit</strong> Blitz und Donner, der sich bereits auf den benachbarten<br />

Bergen austobt. Vielleicht kommt ein Zug Pfadfinder in einem<br />

niederschmetternden Tempo vorbei. Vielleicht friert man und hat Hunger<br />

und stinkt so erbärmlich, daß man sich selbst nicht mehr riechen kann. Vielleicht<br />

will man sich einfach nur hinlegen und es den Flechten gleichtun,<br />

nicht unbedingt tot sein, aber ruhen, lange ausruhen, ganz lange ausruhen.<br />

Aber das lag alles noch vor mir. Heute brauchte ich auf einer gut markierten<br />

Strecke von 11,2 Kilometern nur vier <strong>mit</strong>telmäßig hohe Berge bei klarem,<br />

trockenen Wetter zu überqueren. Das war doch wohl nicht zuviel verlangt.

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