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102 Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume Forschungen Heft 143<br />
4.33 (Stadt-)historische Funktionen<br />
Auch die stadthistorischen Funktionen<br />
sind häufig mit gesellschaftlichen Funktionen<br />
verbunden, insbesondere solchen<br />
der Aushandlung bzw. Festlegung der Geschichtswahrnehmung<br />
(siehe Kap. 4.34).<br />
Entsprechend steht an dieser Stelle weniger<br />
die Vermittlung einer bestimmten Geschichte<br />
im Mittelpunkt. Vielmehr wird<br />
offenbar erwartet, dass die gebaute Umwelt<br />
– auf verschiedene Weisen – stärkere<br />
Bezüge zu historischen Spuren der Stadtentwicklung<br />
herstellt und deutlich macht.<br />
Damit geht es letztlich indirekt um eine<br />
ähnliche Funktion, wie sie in Denkmalschutz<br />
und Kunsthandel der „Alterswert“<br />
erfüllt – wenngleich dieser für die damit<br />
begründeten Rekonstruktionen lediglich<br />
ideell, scheinbar visuell und nicht materiell<br />
in Anspruch genommen werden kann.<br />
Hier sollen drei unterschiedliche derartige<br />
Funktionen unterschieden werden:<br />
• die Herstellung historischer Bezüge und<br />
die Anknüpfung städtischer Entwicklung<br />
an die Geschichte,<br />
• das Anknüpfen an lokale Bautraditionen<br />
sowie<br />
• das Anknüpfen an frühere Bautechniken<br />
und -materialien.<br />
Herstellung historischer Bezüge<br />
Der Alterswert wird zunächst vielmals in<br />
den Bauwerken insgesamt gesehen. Die<br />
Gebäude dienen demnach wie originale<br />
Baudenkmale der Erinnerung, als Merkzeichen<br />
für die (lokale) Vergangenheit, im<br />
Weiteren als Anknüpfungspunkt für Geschichtsvermittlung<br />
und damit letztlich als<br />
ein Angebot zur individuellen Identitätsbildung<br />
durch die Aneignung der lokalen<br />
Geschichte. Die – echten oder nachempfundenen<br />
– baulichen „Geschichtsspuren“<br />
dienen innerhalb der weiterentwickelten,<br />
modernisierten Stadt, indem sie die<br />
Vorstellungskraft der Betrachter anregen<br />
und bei ihnen Fragen nach der Geschichte<br />
des Ortes erzeugen. Besonders deutlich<br />
tritt diese Vorstellung in zwei Äußerungen<br />
Christoph Mäcklers (zit. in BMVBS<br />
2009: 53) zu Tage: „Ich bin jemand, der [...]<br />
sich oft überlegt, was an dem Ort, an dem<br />
ich gerade bin, alles stattgefunden hat, wer<br />
alles an diesem Ort gewesen ist. Wenn ich<br />
in eine alte romanische Kirche gehe und<br />
mir überlege, wann welche Gesellschaften<br />
diesen Raum belebt haben, so ist das etwas,<br />
das mich trägt.“ Diese Wirkung schreibt er<br />
am Beispiel des Frankfurter Goethe Hauses<br />
auch Rekonstruktionen zu: „Wenn Sie<br />
heute dort hingehen, dann sehen Sie die<br />
Geschichte der Jugend Goethes. Sie erleben<br />
die Räume und Atmosphäre in diesem<br />
Haus. Sie sind nicht etwa in einem Fünfziger-Jahre-Haus“<br />
(Mäckler zit. in BMVBS<br />
2009: 37). Mit den in aller Regel prominent<br />
situierten und auffälligen Gebäuden soll<br />
also Geschichte in betonter Weise sichtbar<br />
gemacht werden. Insofern gleichen sie in<br />
ihrer Funktion musealen Rekonstruktionen<br />
(vgl. Pehnt 2008), haben aber für ihre<br />
Verfechter den Vorteil, dass sie maßstabsund<br />
ortsgleich ausgeführt werden und damit<br />
zusätzliche Möglichkeiten der Bezugnahme<br />
bieten. Dabei verbindet sich die<br />
Argumentation über die baulich-räumliche<br />
Vermittlung von der „Historizität“<br />
von Stadt und Raum als wesentlichem Bestandteil<br />
des genius loci häufig mit solchen<br />
über die Vorzüge eines Festhaltens an tradierten,<br />
„gewachsenen“ städtischen Strukturen,<br />
wie sie bereits als Argument bei der<br />
zuvor beschriebenen stadtstrukturellen<br />
Funktion angeführt werden.<br />
Dem Argument eines Funktionierens von<br />
Rekonstruktionen als historischem Bezug<br />
– auch wenn ggf. mehrere Jahrzehnte zwischen<br />
Zerstörung des Originals und Wiederaufbau<br />
liegen und der Bauplatz und<br />
sein städtebaulicher Kontext sich seitdem<br />
zum Teil umfassend weiterentwickelt haben<br />
– liegt eine Abwertung der Idee der Authentizität<br />
und eine gesteigerte Signifikanz<br />
der optischen Wirkung sowie der das Werk<br />
prägenden Idee zugrunde. Die „Software“<br />
ist in diesem zumeist populären Urteil<br />
gewissermaßen wichtiger als die „Hardware“.<br />
Hierin manifestiert sich ein umfassender<br />
gesellschaftlicher Wandel, der u. a.<br />
mit den Begriffen der Erlebnis-, Wissensund<br />
Mediengesellschaft zu beschreiben<br />
versucht wird. Durch die gesteigerte Bedeutung<br />
des Erlebnisses und die Ähnlichkeit<br />
des visuellen Erlebens eines „echten“<br />
und eines nachgebauten Denkmals wird<br />
praktisch eine Gleichsetzung der Wirkung<br />
möglich. Auch in früheren Epochen<br />
wäre ein solches Vorgehen denkbar gewesen,<br />
hätte allerdings vermutlich eine wesentlich<br />
geringere Wirkung erzielt. Durch<br />
den Übergang von der Industrie- zur Wis