PDF-Download - Newsletter Urbane Transformationen
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Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Hintergründe<br />
45<br />
Irrtums zu legitimieren (vgl. Angenendt<br />
1994: 162–166).<br />
Entwicklung des Reliquienkults<br />
Somit sind Reliquien innerhalb der hier bedeutenden<br />
christlichen bzw. katholischen<br />
Auffassung stets Teil eines Personenkultes,<br />
wenngleich eines, der sich letztlich nicht<br />
auf die Person direkt, sondern auf deren<br />
Wirken und Ethik bezieht. Zunächst war<br />
dabei sowohl der Kult als auch die Wirkung<br />
von Heiligen zeitlich und räumlich<br />
begrenzt; sie dienten als Schutzpatrone<br />
der Gemeinde oder der Regionen und Länder,<br />
innerhalb derer ihr Grab lag (Häussling<br />
1973: 193, Delehaye 1930, vgl. insg. Angenendt<br />
1994: 123–128). Insofern war die<br />
primäre Aufgabe von Reliquien, neu bekehrten<br />
Gebieten einen Schutzpatron zu<br />
geben. Angenendt (1994: 125) sieht hierin<br />
im Widerspruch zur historischen Literatur<br />
kein Zugeständnis an die Volksfrömmigkeit,<br />
sondern vielmehr „den Versuch, einen<br />
neuen ‚Sakralort mit Ahnengrab‘ zu schaffen“.<br />
Gleichzeitig bewirkte die Ausbreitung<br />
der Reliquien durch Schenkung, Handel,<br />
Raub sowie schließlich auch Handwerk<br />
und Kunst eine ortsüberschreitende, multilokale<br />
Heiligenverehrung, bis sich im<br />
Spätmittelalter die Auffassung von der Allgegenwart<br />
der Heiligen durch die Anrufung<br />
der Gläubigen durchsetze.<br />
Obwohl gerade im 15. und 16. jahrhundert<br />
eine Kulmination in massenhaften Wallfahrten<br />
zur Heiligen- und Reliquienverehrung<br />
stattfand, setzte damit bereits ein<br />
langfristiger Trend des Niedergangs des<br />
Reliquienkults ein, der weite Teile der weiteren<br />
Religionsgeschichte bestimmt. Zunächst<br />
scheint hier allerdings die spätmittelalterliche<br />
Situation von Interesse, in der<br />
trotz der sich durchsetzenden multilokalen<br />
Heiligenverehrung der Reliquienkult<br />
einen (finalen) Hochpunkt erreichte und<br />
alte und neue Wallfahrtsziele als besondere<br />
Orte zusätzliche Bedeutung erlangten.<br />
Gleichzeitig wurde der Kult in einer<br />
von Angenendt (1994: 230) als epidemisch<br />
beschriebenen Massenbewegung verallgemeinert.<br />
Es ist darauf hinzuweisen, dass<br />
zu diesem Zeitpunkt – quasi am Vorabend<br />
der Reformation – auch die Kirchenfrömmigkeit<br />
und damit die „Bereitschaft und<br />
Sehnsucht, das weltliche Leben im Rahmen<br />
der von der Kirche geschaffenen Ord<br />
nung und mit Hilfe der von ihr angebotenen<br />
Gnadenschätze zu heiligen“ (Möller<br />
1991: 75) ihren Höhepunkt erreichte. Diese<br />
Heilssehnsucht verband sich allerdings<br />
zugleich mit einer Heilsunsicherheit (vgl.<br />
Möller 1991: 77). Wenngleich vieles durch<br />
das nunmehr massenhafte Vorkommen<br />
neu wirkte, entstanden innerhalb des als<br />
konservativ zu betrachtenden Festhaltens<br />
am Heiligenkult in einer „aufgeregten Gesellschaft“<br />
(Meuthen 1980: 3) „keine neuen<br />
Formen [religiöser Praxis]“ (Andreas<br />
1959: 142; vgl. Angenendt 1994: 230–233).<br />
Hatte es schon zuvor innerhalb der Theologie<br />
Strömungen gegeben, die in der Kirchenfrömmigkeit<br />
nicht ein aus erbauender<br />
Liebe erwachsendes Angebot für die einfachen<br />
Christen sahen, sondern stattdessen<br />
stärker verinnerlichte Glaubensformen<br />
postulierten (Hamm 1992: 217), so entstand<br />
daraus durch die Humanisten wie<br />
etwa Erasmus von Rotterdam eine fundamentale<br />
Kritik am völkischen „Aberglauben“,<br />
der sich in der Heiligen- und Reliquienverehrung<br />
zeige, den wahren Glauben<br />
untergrabe und auch der Bereicherung<br />
der Kirche diene (Angenendt 1994: 233–<br />
235). Während der Reformation wurde<br />
diese Kritik noch grundsätzlicher formuliert:<br />
Die als Mittler gedachten Heiligen<br />
würden die Einzigartigkeit Christi aufheben,<br />
ihn ergänzungsbedürftig erscheinen<br />
lassen (Köpf 1990, Pinomaa 1977, Manns<br />
1980) und schließlich ersetzen bzw. aufheben.<br />
Für Luther waren nicht das Bild,<br />
der Leib oder die Person, sondern einzig<br />
ihr Glaubenszeugnis verehrungswürdig.<br />
Standen die Reliquien, von ihm im „Großen<br />
Katechismus“ als „alles tot Ding“ abgetan,<br />
im Zentrum von Luthers Kritik und<br />
forderte er statt einer Verehrung der Heiligen<br />
den Gottesdienst an den (bedürftigen)<br />
Mitchristen als die Erfüllung des neutestamentarischen<br />
Gebots (Manns: 1980: 545),<br />
so bezogen sowohl Zwingli als auch Calvin<br />
die Bildnisse einschließlich des Kruzifix<br />
in die Kritik mit ein und setzten damit<br />
innerhalb der Täuferbewegung einen<br />
wahren „Bildersturm“ in Gang (Christensen<br />
1979: 79–109). Dieser breitete sich von<br />
Zürich aus rasch bis Norddeutschland und<br />
in die Niederlande aus (Campenhausen<br />
1957: 106). Hatte Luther lediglich die Reliquien<br />
aus den Kirchen verbannt, ihnen<br />
aber ihren Schmuck einschließlich der Reliquiare<br />
gelassen, so wurde nun sämtliches