PDF-Download - Newsletter Urbane Transformationen
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Wiederaufbauprozesse: Zentrale Einflussfaktoren<br />
107<br />
Die Breite von unterschiedlichen mit Wiederaufbauvorhaben<br />
beabsichtigten Funktionen<br />
und der daran geäußerten Kritik<br />
zeigt, dass dieser Punkt an dieser Stelle<br />
kaum umfassend behandelt werden kann.<br />
Stattdessen soll hier versucht werden zu<br />
erläutern, warum die Auseinandersetzung<br />
um diese potentielle Funktion – und<br />
dass Wiederaufbauten je nach Ausführung<br />
und gewählter Wiederaufbaustrategie<br />
in der Lage sind, die Geschichtswahrnehmung<br />
in ganz unterschiedlicher Weise<br />
zu beeinflussen, davon soll an dieser Stelle<br />
ausgegangen werden – in fast allen Rekonstruktionsdebatten<br />
einen so wesentlichen<br />
Stellenwert einnimmt. Diskutiert wird dabei<br />
vor allem zweierlei: der Inhalt der Geschichtswahrnehmung<br />
und die kulturelle<br />
Form der Erinnerung.<br />
Die gesellschaftliche wie individuelle Geschichtswahrnehmung<br />
erfolgt immer selektiv<br />
aus den zur Verfügung stehenden<br />
Quellen, unter Beachtung der zur Verfügung<br />
stehenden Fähigkeiten ihrer Auswertung<br />
und schließlich unter Einsatz einer<br />
Interpretationsleistung, die den gesellschaftlichen<br />
Kontext der jeweiligen Jetztzeit<br />
mit einschließt. Die Antwort darauf,<br />
wer entscheidet, was erinnert und was vergessen<br />
wird, folgt im Wesentlichen den jeweiligen<br />
Macht- bzw. Governancestrukturen,<br />
die auch für andere gesellschaftliche<br />
Entscheidungs- bzw. Aushandlungsprozesse<br />
gelten. Hinzu kommt allerdings,<br />
dass jedes Gesellschaftsmitglied zugleich<br />
auch Quelle der historischen Erinnerung<br />
und Träger eines Teils des kollektiven bzw.<br />
kommunikativen oder kulturellen Gedächtnisses<br />
ist und selber einen permanenten,<br />
kaum bewusst verlaufenden Selektionsprozess<br />
dahingehend durchläuft,<br />
welche Erfahrungen erinnert und welche<br />
vergessen werden. Hier ist sowohl auf<br />
intra- wie intergenerative Unterschiede<br />
hinzuweisen. Für die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen<br />
ist die Erinnerung<br />
an die Zerstörung maßgeblich mit einem<br />
sehr unterschiedlich und häufig nur sehr<br />
unzureichend oder verspätetet aufgearbeiteten<br />
Trauma verbunden, das aus der<br />
eigenen Opferrolle während der Bombardierung,<br />
insbesondere aber auch der später<br />
eingestandenen (individuellen oder<br />
kollektiv verstandenen) Täterschaft resultiert.<br />
In den nachfolgenden Generationen<br />
sind dann sowohl ein Wunsch nach Auf<br />
arbeitung wie auch nach Unbefangenheit<br />
und Normalisierung festzustellen. Schon<br />
durch diese unterschiedlichen Ansätze<br />
wird die über die Nachkriegsjahrzehnte<br />
relativ stabile und homogene Geschichtswahrnehmung<br />
aus gesellschaftlicher Tabuisierung<br />
und institutionalisierter Erinnerung<br />
mehr und mehr durch kontroverse<br />
Ansätze abgelöst.<br />
Innerhalb einer entsprechend heterogenen<br />
Geschichtswahrnehmung ergibt sich<br />
zwangsläufig ein komplexer Diskurs um<br />
die Form der Aufarbeitung und der darin<br />
zum Ausdruck gebrachten Erinnerungskultur.<br />
Dabei geht es neben kulturellen<br />
Fragen des Ausdrucks, der Haltung, Gestik<br />
und Gestaltung ganz wesentlich auch um<br />
den gesellschaftlichen wie individuellen<br />
Nutzen, der von einer in einer bestimmten<br />
Weise institutionalisierten, normierten,<br />
tradierten oder auch baulich-räumlich<br />
manifestierten Erinnerung ausgeht – etwa<br />
hinsichtlich der immer noch vorhandenen<br />
Traumata. Besonders deutlich zeigt sich<br />
dies neben der Rekonstruktionsdebatte<br />
sicherlich bei bewusst „geschichtspolitischen“<br />
Diskursen wie etwa dem Streit um<br />
das Holocaust-Mahnmal. Für die hier wesentliche<br />
baulich-räumliche Vermittlung<br />
von Erinnerung gelten zudem sämtliche<br />
Konfliktpotenziale, die für Stadtproduktion<br />
und ihre gestalterische Konkretisierung<br />
hinsichtlich sozialer, ökonomischer,<br />
ökologischer und kultureller Wirkungen<br />
gelten und die das Bauen und Planen – zumal<br />
im innerstädtischen Bereich – stets<br />
begleiten. Entsprechend gibt es hier auch<br />
erhebliche Vorbehalte, die Geschichtlichkeit<br />
von Ort und Raum als beachtlichen<br />
Belang jenseits des ohnehin schon häufig<br />
problematisierten Denkmalschutzes anzuerkennen.<br />
Dabei findet bei der Stadtproduktion<br />
ein permanenter Umgang mit Geschichte<br />
und Erinnerungsangeboten statt.<br />
Die Aspekte, die nicht dem aktuellen bzw.<br />
dem gewünschten Selbstbild entsprechen,<br />
werden (durch Abriss oder eben Nicht-Rekonstruktion)<br />
aus dem gemeinsamen Gedächtnis<br />
ausgeblendet. Dabei hat diese<br />
Kontrolle über die Geschichtswahrnehmung<br />
eine systemstabilisierende Wirkung,<br />
die vielleicht am deutlichsten in den Anfangsworten<br />
von George Orwells Roman<br />
„1984“ zum Ausdruck kommt: „Wer die Vergangenheit<br />
beherrscht, beherrscht die Zukunft.<br />
Wer die Gegenwart beherrscht, be