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290 Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume Forschungen Heft 143<br />
Die am weitesten gehende Rücksichtnahme<br />
auf die räumlichen Veränderungen seit<br />
der Zerstörung eines rekonstruierten Bauwerks<br />
ist sicherlich der Erhalt (von Teilen)<br />
der Neubebauung. Hierzu wird entweder<br />
das Wiederaufbauvorhaben eingeschränkt<br />
oder an einem anderen als dem Originalstandort<br />
durchgeführt. So wird vom früdas<br />
Rathaus Wesel in dem in der rekonstruierten<br />
Fassade integrierten Treppenaufgang<br />
vorgesehen ist.<br />
Integration zusätzlicher zeitgenössischer<br />
Gebäudeteile und gestalterischer Elemente<br />
In ebenfalls wenigen Fällen soll durch Erweiterung<br />
oder Kombination mit zeitgenössischer<br />
Architektur sowie mit der bewussten<br />
Integration zeitgenössischer<br />
Elemente in die (Fassaden-)Gestaltung<br />
versucht werden, der Zeitgenossenschaft<br />
des Bauwerks Ausdruck zu verleihen. Am<br />
weitesten geht diese Bemühung sicher<br />
beim Leipziger „Paulinum“ als dem Nachfolger<br />
der gesprengten Paulinerkirche, bei<br />
dem allerdings aufgrund der Ausschreibung<br />
als Neubau mit Erinnerungsfunktion<br />
auch nicht von einer Rekonstruktion<br />
gesprochen werden kann. Anders ist<br />
dies etwa beim Reitstadel in Neumarkt i.<br />
d. Oberpfalz, das nach dem Wiederaufbau<br />
durch einen betont zeitgenössischen Anbau<br />
ergänzt wurde. Ob dies bewirkt, dass<br />
auch der Reitstadel selber als zeitgenössisches<br />
Gebäude wahrgenommen wird, ist<br />
allerdings fraglich, da entsprechende Anbauten<br />
durch Anwendung der Charta von<br />
Venedig auch im Denkmalbestand anzutreffen<br />
sind. Ähnlich ist wohl auch der<br />
rückwärtige Anbau an die Römerberg-<br />
Ostzeile zu bewerten. Die Integration von<br />
zeitgenössischen Elementen in die rekonstruierte<br />
Fassade wird beim Wiederaufbau<br />
des Weseler Rathauses überlegt. So könnte<br />
beispielsweise eine Figurengruppe, die bereits<br />
im 19. Jahrhundert im Zuge von Restaurierungsarbeiten<br />
ersetzt wurde, erneut<br />
gegen zeitgenössische Personen ausgetauscht<br />
werden. Ein zunächst wenig auffällige,<br />
aber kontrovers diskutierte Veränderung<br />
wurde für die Rekonstruktion der<br />
Garnisonskirche Potsdam beschlossen:<br />
Anstelle des preußischen Adlers soll das<br />
Nagelkreuz der Coventry Cathedral als<br />
Symbol gegen Krieg und Zerstörung auf<br />
die Turmspitze gesetzt werden.<br />
Translokation von Gebäudeteilen<br />
Wie auch im Nachkriegswiederaufbau besteht<br />
eine weitere Option in der Translokation<br />
von Gebäudeteilen, um diese an anderer<br />
Stelle zu erhalten und gleichzeitig den<br />
Standort für die Rekonstruktion eines Vorgängerbauwerks<br />
zu räumen. Für gesamte<br />
Gebäude ist die Methode überhaupt nicht<br />
nachgewiesen, und auch für Gebäudeteile<br />
kommt sie selten vor. So ermöglichte der<br />
Abriss von Teilen des Innenstadtcampus<br />
der Universität Leipzig den Bau einer – hier<br />
allerdings deutlich zeitgenössisch überformten<br />
– Form der Paulinerkirche. Wenngleich<br />
das Gebäude selber offenbar nicht<br />
nur allenfalls aus fiskalischen Erwägungen<br />
als erhaltenswert angesehen wurde, so<br />
entstand doch auch hier eine Diskussion<br />
um das an der Fassade befestigte Kunstwerk,<br />
das „Karl Marx und das revolutionäre,<br />
weltverändernde Wesen seiner Lehre“<br />
zeigt. Schließlich wurde es als Denkmal<br />
an anderer Stelle wieder aufgestellt und<br />
dient hier nicht nur dem Erinnern an die<br />
ehemalige Universitätsbebauung aus den<br />
1970er Jahren, sondern zugleich auch der<br />
vorangegangenen Sprengung der Paulinerkirche.<br />
Noch nicht bekannt ist die tatsächliche<br />
Form von Translokationen von<br />
Teilen des Palasts der Republik, der für<br />
relativ kurze Zeit den Platz des Berliner<br />
Schlosses einnahm. Wohl auch aufgrund<br />
der umfangreichen Proteste gegen den Abriss<br />
des Gebäudes und seiner kulturellen<br />
Zwischennutzung kam es hier einerseits<br />
zu einem regen Handel mit früherem Inventar,<br />
zum anderen erhielt der Berliner<br />
Senat so zahlreiche Anfragen nach Teilen<br />
der Gebäudehülle, dass er schließlich beschloss,<br />
die verspiegelten Glasscheiben an<br />
nicht-kommerzielle künstlerische und gemeinnützige<br />
Zwecke abzugeben (Martell<br />
2006). Insofern ist mit vielfältigen Translokationen<br />
zu rechnen. Nur erwähnt sei die<br />
Wiederverwendung des Stahls in VW-Golf-<br />
Modellen und einem Bauprojekt in Dubai.<br />
Ebenfalls nur verwiesen werden soll auf die<br />
häufig erforderliche Verlagerung von Nutzungen<br />
aus im Verlauf von Wiederaufbauvorhaben<br />
abgerissenen Gebäuden, wie etwa<br />
des „Portikus“ bei der Wiedererrichtung der<br />
Alten Stadtbibliothek Frankfurt a. M.<br />
Erhalt des Nachfolgerbaus durch Integration<br />
oder Standortverlagerung