PDF-Download - Newsletter Urbane Transformationen
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34 Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume Forschungen Heft 143<br />
erst nach der Entscheidung über den Wiederaufbau<br />
– sondern weil sie (Teilen) der<br />
Stadtgesellschaft wie dargestellt ein Identifikationsangebot<br />
machen, das von der<br />
Art der Nutzung zunächst unabhängig ist.<br />
Interessanterweise wird Kitsch als ein<br />
genuin modernes Phänomen begriffen,<br />
das besonders von denjenigen geschätzt<br />
wird, die mit der anspruchsvollen, teilweise<br />
nüchternen Kunst der Moderne hadern.<br />
Im Gegensatz zu früheren Epochen,<br />
in denen künstlerischer Ausdruck auch<br />
eine gewisse Freiheit bedeutete, soll die<br />
Kunst mit steigendem Maß an individueller<br />
Freiheit stärker Halt geben und feste<br />
Werte schaffen (vgl. Gelfert 2000: 121).<br />
Gelfert (2000: 10) nennt Kitsch gar die „Gegenkunst<br />
zur Avantgarde“. Seine Ursprünge<br />
werden in der Aufklärung gesehen,<br />
durch welche die Menschen aus traditionellen<br />
Bindungen gelöst und das aufkommende<br />
Bürgertum in Unruhe und Unsicherheit<br />
versetzt wurde (vgl. Elias 2003,<br />
Gelfert 2000: 106), oder am Beginn der Industrialisierung<br />
und des Massenkonsums<br />
festgemacht (vgl. Braungart 2002: 10, Moles<br />
1971). Gelfert (2000: 106) nennt diese<br />
aufkommende Verunsicherung die „Angst<br />
vor dem Licht“. Auch Elias stellt die „Veränderung<br />
der menschlichen Formenwelt“<br />
(2003: 1) zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert<br />
als einen Ausdruck des Aufstiegs<br />
des Bürgertums dar. Bereits für diese Zeit<br />
konstatiert er ein Sich-Auflösen der geschlossenen<br />
Ausdrucksform in mehrere<br />
„Schulungen“ (Elias 2003: 6) – die zwar<br />
als unterschiedlich niveauvoll anzusehen<br />
seien, aber dennoch nebeneinander existierten.<br />
In diesem Prozess habe der Geschmack<br />
der Spezialisten immer weiter<br />
von dem der noch form- und stilunsicheren<br />
Masse entfernt, die sich nun „im Grunde<br />
staunend und verständnislos vor diesen<br />
Gestaltungen, die für sie mindestens<br />
unmittelbar keine Repräsentationen der<br />
eigenen Seelenlage sind“ (Elias 2003: 25)<br />
wieder fänden. Unter dem Druck der Masse<br />
habe sich der Kitschstil entwickelt, der<br />
sich durch besondere Aufgeladenheit mit<br />
Gefühlen auszeichne und damit den „vom<br />
Berufsdruck entformten Seelen“ (Elias<br />
2003: 31) ein wenig von der verlorenen<br />
Geborgenheit zurückgebe. Ähnlich interpretieren<br />
Scheier (2002: 33) und Bystrina<br />
(1985: 17) Kitsch als ästhetische „Ersatzbefriedigung“<br />
für den Verlust der vorindust<br />
riellen Gemütlichkeit. Zwar habe es auch<br />
in vorhergehenden Epochen bereits Kunstwerke<br />
gegeben, die heute als „kitschig“<br />
empfunden würden. Im Unterschied zu<br />
kitschigen Produkten aus der Moderne<br />
seien diese jedoch immer an das natürliche<br />
Bewusstsein der jeweiligen Zeit gekoppelt<br />
gewesen und damit ehrlich empfundenen<br />
Gefühlen entsprungen. Deshalb<br />
könne man sie heute zwar als trivial oder<br />
sentimental bezeichnen, aufgrund ihrer<br />
Authentizität jedoch nicht als Kitsch (vgl.<br />
Scheier 2002: 29–30).<br />
Anders bei heutigen historisierenden, nostalgisierenden<br />
Objekten: Auch der Nostalgie-<br />
oder Retrowelle wird eine über die<br />
Ästhetik von Objekten hinausgehende gesellschaftliche<br />
„Sekundärwirkung“ (Fischer<br />
1980: 17) zugeschrieben. Von verschiedenen<br />
Wissenschaftsdisziplinen<br />
wird sie als Kritik an Konsumgesellschaft<br />
und Massenproduktion, als Ausdruck von<br />
Langeweile, „Weltflucht“ (Spiegel 1973)<br />
und Entpolitisierung ausgelegt. Fischer<br />
(1980: 243–265) identifiziert vier einander<br />
ergänzende und sich teilweise überschneidende<br />
Interpretationsstränge: Eine erste,<br />
psychologisch-anthropologisch-philosophische<br />
Deutung stellt das Streben nach<br />
immateriellem Glück, das die spätkapitalistischen<br />
Warengesellschaft nicht mehr<br />
bieten kann, in den Mittelpunkt. Im Zuge<br />
dessen ziehen sich die Nostalgiker in die<br />
Privatheit zurück, erinnern sich an Zeiten,<br />
in denen das Leben für sie noch überschaubarer<br />
war und sie noch nicht alle<br />
Erlebnismöglichkeiten ausprobiert hatten.<br />
Mit Arnold Gehlen spricht Fischer<br />
(1980: 245) von Nostalgie als „Glücksphantasie<br />
nach hinten“. Diese „Katerstimmung<br />
des Aufgebotsüberflusses“ (Gehlen<br />
1976: 435–436, zit. n. Fischer 1980: 245),<br />
in der sich das Selbstbewusstsein und die<br />
Identität der Menschen auf die emotionale<br />
Inbesitznahme von Objekten gründeten,<br />
führe zu einer kollektiven Regression<br />
und Infantilisierung. In früheren Zeiten,<br />
als Gebrauchsgegenstände noch überwiegend<br />
selbst oder von anderen handwerklich<br />
hergestellt wurden, begleiteten diese<br />
ihre Besitzer unter Umständen ein Leben<br />
oder zumindest viele Jahre lang. Heute<br />
muss sich der Mensch ständig auf neue<br />
Gegenstände und neue Ästhetik einstellen.<br />
Nostalgisch anmutende Dinge wirken<br />
dabei entlastend, geradezu heimatlich-