PDF-Download - Newsletter Urbane Transformationen
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Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Hintergründe<br />
63<br />
Grad hinter ihrer gesellschaftlichen Rolle<br />
und Funktionalität verstecken können<br />
und sich Beziehungen zu anderen Menschen<br />
im Zuge dessen versachlichen. Daraufhin<br />
gehen die persönlichen Ansprüche<br />
aneinander sowie die gegenseitige<br />
Kontrolle zurück. Soziale Bindungen werden<br />
stärker aus gemeinsamen Interessen<br />
heraus aufgebaut und basieren weniger<br />
auf Herkunft oder Familienzugehörigkeit.<br />
Die individuelle Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit<br />
wächst durch die entstandene<br />
Sachlichkeit und Rationalisierung<br />
und erschließt völlig neue Optionen<br />
der Lebensführung (vgl. Abels 2006, Schimank<br />
2004: 46 – 55). In dieser neuen Freiheit<br />
bleibt das Individuum aber gleichzeitig<br />
auch in gewisser Weise auf sich allein<br />
gestellt; die plötzliche Vielfalt der Optionen<br />
führt auch zu Unsicherheit, Entfremdung<br />
von sich und anderen und der<br />
Auflösung alter, das Leben strukturierender<br />
Ordnungen. Die „Multioptionsgesellschaft“<br />
(Schimank 2004: 52), bedeutet für<br />
den Einzelnen auch eine Last, mit der er<br />
umzugehen lernen muss. Der Wunsch und<br />
die Suche nach neuen Orientierungsmustern<br />
und neuen persönlichen Bindungen,<br />
die höhere Stabilität und Sicherheit garantieren<br />
sollen, beginnen. Dabei steht das<br />
Individuum in einem stetigen Spannungsfeld<br />
von Selbststilisierung und Darstellung<br />
seiner Einzigartigkeit auf der einen<br />
Seite und dem Wunsch nach Zugehörigkeit<br />
zu einer Gruppe auf der anderen. Abhängig<br />
von „der Relevanz, dem sozialen<br />
Druck und den Möglichkeiten einer Situation“<br />
steht manchmal der „Massenmensch“<br />
und manchmal der „Individualist“ (Abels<br />
2006: 155) im Vordergrund (vgl. Nollmann/<br />
Strasser 2004: 9–14).<br />
Als eine Möglichkeit zur Herausstellung<br />
der Individualität, die einer permanenten<br />
Überanstrengung vorbeugt, sieht Bourdieu<br />
(1982) die Zuordnung zu einer sozialen<br />
Klasse und deren „feine Unterschiede“<br />
– er unterscheidet zwischen herrschender<br />
Klasse, Mittelklasse und der bäuerlichen<br />
classe populaire – durch welche die Schemata<br />
des Denken und Handelns (der „Habitus“)<br />
bestimmt werden. Als Distinktionsmittel<br />
von den anderen Klassen dienen bei<br />
Bourdieu nicht wie bei Marx ausschließlich<br />
die Verfügbarkeit von Produktionsmitteln,<br />
sondern vor allem Geschmack<br />
und Lebensstil. Der Habitus der jeweiligen<br />
Klasse bildet dabei einen kollektiven Rahmen,<br />
der den Individuen jedoch einen gewissen,<br />
akteursspezifisch genutzten Spielraum<br />
zur Ausbildung eines individuellen<br />
Geschmacks zugesteht (vgl. Abels 2006).<br />
Den Geschmack der herrschenden Klasse<br />
nennt Bourdieu „legitim“, den der Mittelklasse<br />
„mittel“ oder „prätentiös“ und<br />
den der classe populaire „volkstümlich“<br />
oder „barbarisch“. Besonders interessant<br />
im Zusammenhang mit Rekonstruktionen<br />
erscheint die Mittelklasse, deren Angehörige<br />
als Kleinbürger mit großen Geschmacksunsicherheiten<br />
charakterisiert<br />
werden. Als solche haben sie mühsam die<br />
Regeln des guten Geschmacks erlernt und<br />
kennen den „Kanon ernster und wertvoller<br />
Kultur“ (Abels 2006: 16), sie gehen aber<br />
im Gegensatz zu den Mitgliedern der herrschenden<br />
Klasse oftmals weniger mühelos<br />
und natürlich mit diesem Wissen um.<br />
Innerhalb der Mittelklasse unterscheidet<br />
Bourdieu wiederum zwischen drei Untergruppen:<br />
den alten und neuen Autodidakten<br />
sowie den aufstrebenden Kleinbürgern.<br />
Die alten Autodidakten stehen besagtem<br />
Kanon völlig unkritisch und geradezu<br />
schwärmerisch gegenüber und legen beständig<br />
Zeugnis über ihre Kenntnisse ab.<br />
Die neuen Autodidakten hingegen grenzen<br />
sich gänzlich ehrfurchtslos so gut wie<br />
möglich von diesem alten Kanon ab und<br />
stilisieren sich selbst als Anhänger avantgardistischer<br />
oder gegen- bzw. subkultureller<br />
Strömungen. Die dritte und größte<br />
Gruppe wird von den so genannten aufstrebenden<br />
Kleinbürgern gebildet. Angehörige<br />
dieser Gruppe strengen sich an, um<br />
ihr Kleinbürgertum möglichst hinter sich<br />
zu lassen. Den „prätentiösen“ Geschmack<br />
dieser Gruppe beschreibt Bourdieu wie<br />
folgt: „Bildungseifer als Prinzip, das je<br />
nach Vertrautheit mit der legitimen Kultur,<br />
d.h. je nach sozialer Herkunft und entsprechendem<br />
Bildungserwerb, unterschiedliche<br />
Formen annimmt: So investiert das<br />
aufsteigende Kleinbürgertum seinen hilflosen<br />
Eifer in Aneignungswissen und Gegenstände,<br />
die unter den legitimen die trivialeren<br />
darstellen – Besuch historischer<br />
Stätten und Schlösser (statt z. B. von Museen<br />
und Kunstsammlungen), Lektüre populärwissenschaftlicher<br />
und geschichtskundlicher<br />
Zeitschriften, Photographieren,<br />
Sammeln von Kenntnissen über Filme und<br />
Jazz – mit demselben bewundernswerten