im Reprint enthaltenen Geschichten in einer PDF - Karl-May ...
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Benzigers Marienkalender / 1895<br />
Der Kutb.<br />
Reiseerzählung von Dr. <strong>Karl</strong> <strong>May</strong><br />
In Kairo.<br />
[160a] Zufall oder Schickung? Lieber Leser, was von diesen beiden ist wohl richtig?<br />
Hoffentlich gehörst Du nicht zu denjenigen, welche an den ersteren glauben, sondern zu<br />
denen, welche wissen, daß, wie die heilige Schrift sagt, ke<strong>in</strong> Haar ohne „Se<strong>in</strong>en“ Willen<br />
von unserem Haupte fällt.<br />
Wie oft habe ich während me<strong>in</strong>er vielen Reisen an mir selbst erfahren, daß e<strong>in</strong>e<br />
allweise Hand me<strong>in</strong>en Weg ganz anders lenkte, als es me<strong>in</strong> Wille war, und zwar stets zu<br />
me<strong>in</strong>em Glücke! Wie oft wurde ich aus e<strong>in</strong>er mißlichen oder gar gefährlichen Lage durch<br />
e<strong>in</strong>en ganz ger<strong>in</strong>gfügigen Umstand befreit oder errettet, den e<strong>in</strong> Anhänger der<br />
Zufallslehre geradezu für e<strong>in</strong>e Unmöglichkeit erklären würde, der mir aber e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>k von<br />
oben war, dem ich zu folgen hatte! E<strong>in</strong> kurzes, schnell vorübergehendes Ereignis,<br />
welches ohne alle Bedeutung zu se<strong>in</strong> schien, e<strong>in</strong>e rasche, <strong>im</strong>pulsive That, sche<strong>in</strong>bar von<br />
nicht dem ger<strong>in</strong>gsten Werte, e<strong>in</strong> gelegentliches Wort, welches ich schon e<strong>in</strong>ige<br />
Augenblicke später vergessen hatte, trat plötzlich nach Jahren und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz andern,<br />
fernliegenden Lande mit se<strong>in</strong>en Folgen best<strong>im</strong>mend oder erlösend vor mich h<strong>in</strong>, so daß<br />
mir wie e<strong>in</strong> Lichtstrahl die Erkenntnis kam, daß die gerechte Vorsehung jede That und<br />
jedes Wort des Menschen verzeichnet und die belohnende oder bestrafende Wirkung<br />
desselben <strong>im</strong> geeigneten Augenblicke e<strong>in</strong>treten läßt. Wie viele Thaten würden nicht<br />
geschehen und wie viele Worte würden nicht gesprochen, wenn alle Menschen der<br />
Ueberzeugung wären, daß alles, was sie erleben, reden oder thun, nicht unter der<br />
Herrschaft des sogenannten Zufalles steht, sondern unter e<strong>in</strong>em höheren, weisen<br />
Gesetze, welches ebenso die Sonnen am Firmamente wie den Flug des kle<strong>in</strong>sten Käfers<br />
lenkt!<br />
Zufall oder Schickung? Auf diese Frage soll das, was ich jetzt erzählen will, die Antwort<br />
geben, daß alles, was man e<strong>in</strong>en Zufall nennt, nicht Zufall, sondern e<strong>in</strong>e Wirkung dieses<br />
Gesetzes ist.<br />
Ich war <strong>in</strong> der nubischen Wüste gewesen und kehrte nach Kairo zurück, um zunächst,<br />
was me<strong>in</strong> Aeußeres betraf, e<strong>in</strong>en andern, neuen Menschen aus mir zu machen. Die Art,<br />
wie ich reise, br<strong>in</strong>gt es mit sich, daß ich mich nicht mit großer Ausstattung und<br />
strotzendem Geldbeutel auf der großen, belebten Heerstraße bewege. Ich suche<br />
Gegenden auf, die fernab davon liegen, und da ist es mit den „Hilfsmitteln“, selbst wenn<br />
man sie besitzt, sehr bald zu Ende; sie haben allen Wert verloren, und zur Geltung<br />
kommt alle<strong>in</strong> nur die Person, also das, was man ist und was man kann.<br />
Infolgedessen befand ich mich bei me<strong>in</strong>er Rückkehr äußerlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustande, den<br />
man <strong>im</strong> Volksmunde mit den allerd<strong>in</strong>gs sehr unästhetischen Worten „zerrissen und<br />
zerlumpt“ zu bezeichnen pflegt. Das darf ich aufrichtig gestehen, weil es für e<strong>in</strong>en Mann,<br />
der sich so lange Zeit unter den Völkerschaften des obern Nil herumgetrieben hat, ganz<br />
unausbleiblich und also ke<strong>in</strong>e Schande ist. Ich freute mich darum auf me<strong>in</strong>en großen,<br />
vollen Koffer, dessen Inhalt mehr als h<strong>in</strong>reichend war, mich vollständig neu auszustatten.<br />
Ich hatte ihn Ben Musa Effendi, me<strong>in</strong>em Gastfreunde, <strong>in</strong> Verwahrung gegeben, bei dem<br />
ich vor me<strong>in</strong>em Auf- [160b] bruche [Aufbruche] nach Süden drei Wochen gewohnt hatte.<br />
Dieser Ben Musa Effendi war e<strong>in</strong> außerordentlich ehrlicher Mann, dem ich e<strong>in</strong> ganzes<br />
Vermögen hätte anvertrauen können, und so war ich nicht wenig überrascht, als ich<br />
se<strong>in</strong>e Wohnung leer fand und von den Nachbarn erfuhr, daß er ganz plötzlich<br />
verschwunden sei und ke<strong>in</strong>em Menschen gesagt habe, woh<strong>in</strong> er gehe. Zu dieser<br />
Ueberraschung gesellte sich die Betroffenheit, denn me<strong>in</strong> Koffer war mit ihm<br />
verschwunden.