im Reprint enthaltenen Geschichten in einer PDF - Karl-May ...
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An diesem Abende kam der Bettler nicht zu uns und blieb auch an den zwei folgenden<br />
aus. Das fiel uns auf; wir waren an ihn gewöhnt. Sollte er etwa krank se<strong>in</strong>? Ich g<strong>in</strong>g am<br />
nächsten Morgen nach dem Bab Zuweileh; da saß er wie <strong>im</strong>mer. Ich fragte ihn nach der<br />
Ursache se<strong>in</strong>es Ausbleibens; er antwortete:<br />
„Ich habe e<strong>in</strong> Gelübde gethan, welches mich zum Du 'a el Mesah 4 zw<strong>in</strong>gt, und muß<br />
also dahe<strong>im</strong> bleiben. Wenn es vorüber ist, komme ich wieder.“<br />
„Wann wird das se<strong>in</strong>?“<br />
„Das weiß ich nicht.“<br />
Sonderbar! Er mußte doch wissen, was er gelobt hatte und wie viele Abende er zu<br />
beten hatte!<br />
Wir standen <strong>im</strong> Anfange des September, und es gab prachtvolle Abende. An e<strong>in</strong>em<br />
solchen gefiel es mir nicht <strong>in</strong> der engen Stube, und ich stieg auf das platte Dach des<br />
Hauses, um da oben me<strong>in</strong>en Tschibuk zu rauchen. Am vordern Rande des Daches<br />
sitzend, konnte ich sehen, was auf unserer Gasse vorg<strong>in</strong>g. Zu me<strong>in</strong>em Erstaunen<br />
bemerkte ich, daß e<strong>in</strong> Mann kam, welcher an die Thür des Bettlers klopfte und<br />
e<strong>in</strong>gelassen wurde. Nach e<strong>in</strong>iger Zeit kam e<strong>in</strong> zweiter, e<strong>in</strong> dritter und vierter. Ich zählte<br />
zwölf Personen, welche e<strong>in</strong>gelassen wurden. Was wollten sie bei esch Schahad, der sonst<br />
niemand zu sich ließ? Ich dachte an die „Verschwörung“, über welche ich gelacht hatte,<br />
und blieb sitzen. Erst nach Mitternacht entfernten sie sich wieder, und zwar e<strong>in</strong>zeln,<br />
wobei sie sich sehr behutsam verhielten.<br />
Also ke<strong>in</strong> Gelübde und ke<strong>in</strong> Abendgebet, sondern he<strong>im</strong>liche Versammlungen! Das mir<br />
Unbegreifliche dabei war die Zahl der Personen. Der Bettler bewohnte nämlich e<strong>in</strong> fast<br />
ganz <strong>in</strong> Ru<strong>in</strong>en liegendes e<strong>in</strong>stöckiges Häuschen, von welchem niemand wußte, wem es<br />
gehörte. Wahrsche<strong>in</strong>lich war der Eigentümer der reiche Abu Gibrail, welcher auf der mit<br />
der unserigen parallel laufenden Gasse wohnte und an dessen Grundstück die Hütte des<br />
Bettlers h<strong>in</strong>ten stieß. Diese Hütte hatte <strong>in</strong> ihrem jetzigen Zustande ke<strong>in</strong>en Raum, <strong>in</strong><br />
welchem zwölf Menschen bei e<strong>in</strong>ander se<strong>in</strong> konnten. Wo [164a] hatte da esch Schahad<br />
die Leute, welche heute bei ihm gewesen waren, untergebracht? Das war mir e<strong>in</strong> Rätsel.<br />
Am nächsten Abende kam er wieder nicht zu uns; ich g<strong>in</strong>g also abermals auf das Dach<br />
und machte ganz dieselbe Beobachtung wie gestern. Sollte es sich wirklich um e<strong>in</strong>e<br />
Verschwörung handeln? Lächerlich!<br />
Eben als ich am darauffolgenden Vormittag ausgehen wollte, kam e<strong>in</strong> Wasserträger an<br />
unsere Thür. Als er mir den Krug gefüllt und die ger<strong>in</strong>ge Bezahlung erhalten hatte, fragte<br />
er mich:<br />
„Wohnt hier nicht e<strong>in</strong> fremder Effendi?“<br />
[164b] „Ja.“<br />
„Der Kara Ben Nemsi heißt?“<br />
„Ja.“<br />
„Wo ist er?“<br />
„Hier; ich b<strong>in</strong> es.“<br />
„So habe ich Dir etwas zu geben.“<br />
Er zog e<strong>in</strong> altes, schmieriges Tuch aus der Tasche, welches mit e<strong>in</strong>er Schnur fest<br />
umbunden und verknotet war, warf es mir h<strong>in</strong> und g<strong>in</strong>g.<br />
Was befand sich <strong>in</strong> dem Tuche? Mich graute, es anzugreifen; ich hob es aber doch auf,<br />
zerschnitt den B<strong>in</strong>dfaden und zog es an den Zipfeln ause<strong>in</strong>ander. Da fiel e<strong>in</strong> Lederbeutel<br />
[164c] heraus. Ich hob ihn auf und öffnete. Was! Goldstücke und dabei e<strong>in</strong> Zettel! Der<br />
letztere war zusammengeschlagen; ich machte ihn auf und las:<br />
„N<strong>im</strong>m dieses Geld und verlaß die Stadt, wenn auch De<strong>in</strong> Koffer verloren ist!“<br />
Ich zählte das Geld. Es waren nach deutschem Gelde dreihundert Mark. Wer schickte<br />
mir diese Summe?<br />
Ich eilte h<strong>in</strong>aus auf die Gasse, um mich nach dem Wasserträger umzusehen; er war<br />
fort. Ich suchte ihn <strong>in</strong> den anstoßenden Gassen und fand ihn nicht. Er hatte von dem,<br />
von dem er zu mir geschickt worden war, die Weisung erhalten, sich schnell zu<br />
entfernen.<br />
4 Abendgebet.