Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
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näher ausführt (Voltziehungsverordnungen) oder politisch von untergeordneter<br />
Natur wäre.“ Die Frage, wie die Sek<strong>und</strong>ärlegislative zu bestellen wäre, liess Eichenberger<br />
offen. Anzumerken ist, dass Eichenberger mit seinem Vorschlag dem<br />
Trend zur Professionalisierung des (Haupt-)Parlaments entgegenwirken will; für ihn<br />
erscheint die Erhaltung des Milizparlaments als einer der vornehmen Staatszwecke<br />
der Schweiz. 60<br />
Obwohl wichtige Reformüberlegungen der Wahlen-Kommission auf der Voraussetzung<br />
basieren, dass aprioristisch das Wesentliche vom Unwesentlichen, das<br />
Primäre vom Sek<strong>und</strong>ären geschieden werden kann, hat die Kommission dieser<br />
Voraussetzung wenig Beachtung geschenkt. Nirgends entwickelte sie allgemeine<br />
materielle Kriterien für die erwähnte Unterscheidung. Solche scheinen überhaupt<br />
nicht möglich zu sein. – Die Abgrenzung des „Wesentlichen“ vom „Unwesentlichen“<br />
in einem bestimmten Bereich setzt Werturteile voraus. Psychologische <strong>und</strong> erkenntnistheoretische<br />
Argumente sprechen dagegen, dass lediglich ein genügender<br />
Grad menschlicher Vernunft <strong>und</strong> Einsicht notwendig ist, um zu „richtigen“ Werturteilen<br />
zu gelangen, dass also ein Gremium besonders vernünftiger <strong>und</strong> aufgeklärter<br />
Menschen für einen bestimmten Bereich gültig feststellen kann, was wichtig <strong>und</strong><br />
was unwichtig ist. 61 Basieren Kompetenzausscheidungen für Staatsorgane auf der<br />
Dichotomie „wichtig–unwichtig“, so ruft dies nach einer Instanz, die zur autoritativen<br />
Fällung der entsprechenden Werturteile ermächtigt ist. Jenes Organ aber, das autoritativ<br />
bestimmen kann, was im Staate wichtig <strong>und</strong> was unwichtig ist, muss offensichtlich<br />
die höchste Machtfülle besitzen. Im Falle der Sek<strong>und</strong>ärlegislative fällt das<br />
Hauptparlament als oberster Richter über Wesentlichkeit <strong>und</strong> Unwesentlichkeit<br />
ausser Betracht, weil eine solche Kompetenz die angezielte „Entlastung“ wieder<br />
illusorisch machen würde. Das Nebenparlament aber würde sich nicht mehr mit<br />
„sek<strong>und</strong>ären“ Belangen befassen, wenn es die Gr<strong>und</strong>entscheidung über die Wichtigkeit<br />
von Gesetzgebungsakten fällen dürfte. Ein ähnliches Dilemma ergibt sich bei<br />
der „Verwesentlichung der Volksrechte“ <strong>und</strong> bei der Dualisierung der Regierung in<br />
ein B<strong>und</strong>esratskollegium <strong>und</strong> einen „aufgewerteten“ Kanzler, die einander wechselseitig<br />
nicht verantwortlich sind. Die Vorstellung der WahlenKommission, man könne<br />
„überlasteten“ Staatsorganen ihre Bürde erleichtern, wenn man ihnen auf irgendeine<br />
Weise „Entlastungsorgane“ zur Seite stellt, erscheint als einigermassen simplizistisch.<br />
Blosse Organduplizierung kann jene Probleme nicht lösen, die hinsichtlich<br />
der Legislative zur Forderung nach Professionalisierung führten. Sie vermag aber<br />
auch nicht – hinsichtlich der Exekutive – das ohnehin mysteriöse „Kollegialitätsprinzip“<br />
zu erhalten, sondern wird dessen gänzliche Aushöhlung befördern. In ihrer<br />
Konsequenz führen die Duplizierungsvorschläge der Wahlen-Kommission zu einer<br />
zusätzlichen Vernebelung der gr<strong>und</strong>legenden Verantwortlichkeiten im Staat <strong>und</strong><br />
damit zur Verschärfung einer bereits bestehenden antidemokratischen Tendenz.<br />
In diesem Abschnitt über Argumentationsweisen der Wahlen-Kommission sei abschliessend<br />
auf jene philosophische Gr<strong>und</strong>haltung der Kommission hingewiesen,<br />
welche das Problem der „Leistungsfähigkeit von Verfassungsrecht“ be-<br />
60 Eichenberger nennt die Schweiz „einen Staat, der alles daran zu setzen scheint, um ein halbamtliches<br />
Milizparlament aufrechtzuerhalten“ (SB S. 502).<br />
61 T. Geiger, Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos <strong>und</strong> Nüchternheit, München<br />
1963, S. 330 ff.; Flohr, op. cit., S. 17.