Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
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wieder eine neue Reformphase eingeleitet werden muss. Die Revision des Kranken-<br />
<strong>und</strong> Unfallversicherungsgesetzes dauerte 18 Jahre, doch nur wenige Jahre,<br />
nachdem 1964 die Gesetzesnovelle in Kraft gesetzt wurde, musste die Revision<br />
des Gesetzes wieder aufgenommen werden. In bestimmten Bereichen, wie zum<br />
Beispiel bei der B<strong>und</strong>esfinanzordnung, wird überhaupt nur mit befristeten Provisorien<br />
gearbeitet. Der Entscheidungsprozess über B<strong>und</strong>esbeiträge an Hochschulkantone<br />
begann 1960 <strong>und</strong> endete 1966 mit einem auf drei Jahre befristeten Provisorium.<br />
45 Das Wohnbauförderungsgesetz vom 19. März 1965, in Kraft seit 1. März<br />
1966, war bis Ende 1972 befristet. Der erste Raumplanungserlass vom 17. März<br />
1972 ist ohnehin auf drei Jahre befristet, da es sich um eine „dringliche Massnahme“<br />
handelt. – Bezüglich der Kantone stellte Dietrich Schindler fest, dass wegen<br />
des Referendums „veraltete Gesetze jahrzehntelang beibehalten <strong>und</strong> notdürftig<br />
durch Teilrevisionen ergänzt“ würden. 46 Diese Feststellung gilt mindestens teilweise<br />
auch für den B<strong>und</strong>.<br />
Häufig sind beschlossene Massnahmen zu wenig durchgreifend, um die angezielten<br />
Vorgänge signifikant beeinflussen zu können. Der oft angewendete Gr<strong>und</strong>satz,<br />
den Vollzug von B<strong>und</strong>esmassnahmen den Kantonen zu überlassen („Vollzugsföderalismus“),<br />
erschwert wegen der sehr unterschiedlichen kantonalen Verwaltungsapparate<br />
die Einschätzung der Vollzugschancen. In finanziell aufwendigen<br />
Bereichen <strong>und</strong> solchen, in denen wirtschaftliche Interessen hart aufeinander prallen,<br />
gibt es heute Anzeichen einer Vollzugskrise, 47 die den B<strong>und</strong> veranlasst, mit<br />
verschärften Gesetzesbestimmungen <strong>und</strong> zusätzlichen Subventionen „nachzudoppeln“.<br />
Das Gewässerschutzgesetz von 1955 wurde im allgemeinen ungenügend<br />
vollzogen <strong>und</strong> von einzelnen Kantonen weitgehend ignoriert; es musste durch ein<br />
verschärftes Gesetz von 1971 (in Kraft seit 1. Juli 1972) abgelöst werden. Die „Lex<br />
von Moos“ vom Jahre 1961, welche ausländische Investitionen in schweizerische<br />
Gr<strong>und</strong>stücke eindämmen sollte, vermochte die angezielten Vorgänge kaum zu<br />
beeinflussen <strong>und</strong> erfuhr deshalb zwei je verschärfte Neuauflagen. – Wenn das<br />
geplante Gesetzespaket über die Raumplanung einmal vollständig in Kraft sein<br />
wird, dürfte es von den Ereignissen bereits wieder überholt sein.<br />
Der Artikel 3 der B<strong>und</strong>esverfassung zwingt bei zahlreichen <strong>Innovation</strong>sprozessen<br />
eine zeitraubende Zweistufigkeit auf. Damit der B<strong>und</strong> in einem neuen Gebiet tätig<br />
werden kann, muss vorerst eine entsprechende Kompetenznorm in die Verfassung<br />
eingefügt <strong>und</strong> eine Volksabstimmung durchgeführt werden. Gelegentlich erfolgt<br />
diese Kompetenzausweitung in einem Zeitpunkt, da wegen ungenügender Informationen<br />
die Kompetenzbedürfnisse noch gar nicht genau<br />
45 Steiner, Gewaltlose Politik (op. cit.), S. 153–191.<br />
46 Schindler, op. cit., S. 122.<br />
47 G. Müller-Bossert, „Gesetzesinflation <strong>und</strong> Vollzugskrise“, NZZ, Nr. 56, 4.2.1973, S. 37. Siehe auch:<br />
„Vollzugskrise im Verhältnis zwischen B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Kantonen“, NZZ, Nr. 609, 31.12.1972, S. 29. Hier<br />
wird u. a. ausgeführt: „Die Mängel im kantonalen Vollzug eidgenössischer Gesetze sind nicht ausschliesslich<br />
schlechtem Willen der zuständigen kantonalen Instanzen zuzuschreiben. Ein Hauptgr<strong>und</strong><br />
liegt auch in der sich deutlich manifestierenden Schwäche mancher Kantonsregierungen <strong>und</strong> kantonaler<br />
Ämter gegenüber mächtigen Interessengruppen, die nicht selten durch politisch <strong>und</strong> wirtschaftlich<br />
ebenso einflussreiche Inländer vertreten werden. Wenn hier nicht beizeiten Remedur geschaffen wird,<br />
erhebt sich das Gespenst der Korruption; denn Korruption blüht <strong>und</strong> gedeiht dort, wo Behörden <strong>und</strong><br />
Ämter zu schwach sind, nur allein auf das Gesetz gestützt zu regieren <strong>und</strong> zu verwalten <strong>und</strong> sich so<br />
gegenüber allen Bürgern gleichmässig durchzusetzen.“