Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
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polare Modell bietet den Sozialdemokraten die Möglichkeit, unter fairen Bedingungen<br />
in die Opposition gehen zu können, das heisst, dass eine spätere Rückkehr<br />
in die Regierung nicht vom Konsens der bürgerlichen Parteien abhängig, sondern<br />
durch Wahlsieg möglich wäre. – Eine klare Befürwortung des bipolaren Modells<br />
durch die SP ist indessen nicht zu erwarten. Im NeunPunkte-Programm des Generalstreiks<br />
von 1918 befand sich an erster Stelle die Forderung nach Proporzwahl<br />
des Nationalrates. Die SP müsste erhebliche emotionelle Hemmungen überwinden,<br />
wollte sie ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert später die Rückkehr zum Majorz postulieren. – Im<br />
bipolaren Modell wäre die SP die erste Kandidatin für die Oppositionsrolle. Dies<br />
aber setzt erhebliche Risikobereitschaft voraus. Die Partei müsste vorübergehend<br />
sogar mit einem Rückgang der Sitzzahl im Nationalrat, auf jeden Fall mit einer relativ<br />
langen Zeit in der Opposition rechnen. Ob die SP wirklich das politische Risiko<br />
dem Status quo vorziehen will, der zwar unbefriedigend, aber doch relativ komfortabel<br />
ist, bleibt in hohem Masse fraglich. – Selbst wenn die SP das Modell unterstützen<br />
würde, wäre man noch weit entfernt von einer Reformkoalition, die stark<br />
genug wäre, das bipolare System zu installieren.<br />
(3) Die diffuse Machtstruktur des derzeitigen Regierungssystems verleiht den Spitzenverbänden<br />
der Wirtschaft optimale Einflussmöglichkeiten auf die staatlichen<br />
Entscheidungsprozesse. Man würde also erwarten, dass sie sich einer Reform im<br />
Sinne des bipolaren Modells energisch widersetzten <strong>und</strong> insbesondere für die Erhaltung<br />
von Referendum <strong>und</strong> Initiative in den Kampf zögen. Im ersten Teil dieses<br />
Buches haben wir auf das Veto des Vororts gegen jede Veränderung des Regierungssystems<br />
hingewiesen. 1<br />
Die Theorie von den Spitzenverbänden als den ,;natürlichen Gegnern“ einer bipolaren<br />
Reform bedarf allerdings der Nuancierung. In einem Aufsatz über „Politik <strong>und</strong><br />
Wirtschaft“ ging Vorort-Direktor Gerhard Winterberger auf den Kantonalismus der<br />
Parteien <strong>und</strong> deren fehlende Präsenz auf B<strong>und</strong>esebene ein. Die Spitzenverbände<br />
seien wegen dieser Situation genötigt, besonders in Wirtschaftsfragen bedeutende<br />
politische Funktionen auf nationaler Ebene wahrzunehmen <strong>und</strong> hätten entsprechend<br />
an Einfluss gewonnen. Für Winterberger ist jedoch das „Absacken der Parteien“<br />
keineswegs eine erfreuliche Erscheinung. Er führt aus:<br />
„Ich glaube, dass auch die Wirtschaft <strong>und</strong> ihre Organisationen an einer Stärkung<br />
der geschwächten Stellung der politischen Instanzen der Willensbildung, das<br />
heisst des Parlaments <strong>und</strong> der Parteien, <strong>und</strong> an einer Entmythologisierung der<br />
angeblich ‚dunklen Mächte’ wesentlich interessiert sind. Denn schliesslich sind<br />
Staat <strong>und</strong> Wirtschaft aufeinander angewiesen. Eine dynamische freiheitliche<br />
Wirtschaft setzt geordnete politische Verhältnisse, einen politischen Apparat<br />
(Regierung <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esversammlung) von gestaltender <strong>und</strong> nicht nur verwaltender<br />
Kraft, eine integere <strong>und</strong> leistungsfähige Verwaltung sowie eine genügend<br />
ausgebaute öffentliche Infrastruktur (inklusive eines guten Schulsystems) voraus.<br />
2<br />
1 Oben S. 75–77.<br />
2 Gerhard Winterberger, „Politik <strong>und</strong> Wirtschaft“, NZZ, Nr. 257, 7.6.1970, S. 37.