Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
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eine Regierung zu wählen. 19 – Auch in der Schweiz ist die Mehrheitswahl nicht<br />
mehr gänzlich tabu. In der Begründung seiner Motion betreffend Wahlrechtsreform<br />
vom 20. März 1969 erklärte der CVP-Nationalrat Julius Binder, dass er „persönlich<br />
durchaus ein Anhänger des Majorzverfahrens“ sei; nur aus Gründen der politischen<br />
Realisierbarkeit schlage er ein Wahlsystem nach westdeutschem Muster vor. 20<br />
Beachtlich ist dabei, dass die CVP ein halbes Jahh<strong>und</strong>ert zuvor zusammen mit der<br />
SP für den Proporz gekämpft hatte.<br />
Auf die Details des vorgeschlagenen Wahlverfahrens braucht hier nicht eingegangen<br />
zu werden. Immerhin ist zu postulieren, dass überparteiliche Fachleute nach<br />
generellen Kriterien die Wahlkreiseinteilung vornehmen <strong>und</strong> diese in regelmässigen<br />
Abständen an eventuelle Bevölkerungsverschiebungen anpassen. Die Einwohnerzahl<br />
in einem Wahlkreis dürfte vom Durchschnitt nur innerhalb einer bestimmten,<br />
klein zu haltenden Marge abweichen. Bei Kleinstkantonen müsste wahrscheinlich<br />
zugelassen werden, dass Wahlkreise Kantonsgrenzen überschreiten. Nützliche<br />
Vorarbeiten für eine solche Wahlkreiseinteilung leistete der ehemalige Direktor des<br />
Eidg. Statistischen Amtes, Anton Meli, der im Auftrag der Buser-Kommission eine<br />
Simulation von Majorzwahlen auf der Gr<strong>und</strong>lage der Nationalratswahlen von 1971<br />
erstellte. 21<br />
Die erwähnte Simulationsrechnung zeigt einen Konzentrationsprozess zuungunsten<br />
der im B<strong>und</strong>esrat nicht vertretenen Kleinparteien sowie erhebliche Sitzgewinne für<br />
die drei bürgerlichen Regierungsparteien an: die SP dagegen würde mehr als einen<br />
Viertel ihrer jetzigen Sitze im Nationalrat verlieren. – Die Simulation von Meli ist<br />
allerdings mit Vorbehalten aufzunehmen. Ihre Annahmen sind teilweise nicht sehr<br />
realistisch <strong>und</strong> teilweise zu wenig differenziert. Nicht vertretbar ist beispielsweise<br />
die (nicht explizit gemachte) Annahme, dass die Einführung der Mehrheitswahl zu<br />
keinen Änderungen im Wählerverhalten <strong>und</strong> in den Wahlstrategien der Parteien<br />
führen würde. Die wichtige Unterscheidung zwischen „Hochburg-Wahlkreisen“ <strong>und</strong><br />
„Wechselwahlkreisen“ fehlt in der Simulation. Die Ungenauigkeit wird zusätzlich<br />
erhöht, da die 9 grössten Städte mit total 45 Mandaten keine Einerwahlkreise erhielten,<br />
sondern dort Sitzverteilung nach Proporz stipuliert wurde. Die Verteilung<br />
von knapp einem Viertel der Sitze erfolgte somit gar nicht nach Majorz.<br />
(2) Hierarchische Abhebung des B<strong>und</strong>espräsidenten<br />
Der jetzige B<strong>und</strong>esrat bietet sich geradezu der Proporzionalisierung an. Seine sieben<br />
Mitglieder sind einander gleichgestellt; der Präsident besitzt nur unbedeutende<br />
Prärogativen, <strong>und</strong> sein Amt rotiert im Jahresrhythmus nach Anciennitätsregel. –<br />
Wird das Präsidentenamt hierarchisch abgehoben <strong>und</strong> mit erheblichen Prärogativen<br />
ausgestattet, so erhält jene Partei, die es zu besetzen vermag, erhöhtes Gewicht.<br />
Koalitionsregierungen bleiben zwar möglich, nicht aber die Totalpropartionalisierung<br />
nach heutigem Muster. Lässt sich eine Regierung<br />
19 Karl-Heinz Nassmacher, Das österreichische Regierungssystem. Grosse Koalition oder alternierende<br />
Regierung, Köln/Opladen 1968, S. 173.<br />
20 Die Motionsbegründung ist abgedruckt in: Bericht der Studienkommission zur Prüfung von Reformvorschlägen<br />
für die Wahl des Nationalrats <strong>und</strong> das Stimmrechtsalter, August 1972, S. 71–74. (Die genannte<br />
Kommission stand unter dem Vorsitz von Vizekanzler W. Buser; der Bericht wird daher im folgenden<br />
„Buser-Bericht“ genannt.)<br />
21 Buser-Bericht, S. 85–112.