Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
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trifft. Die Kommission neigte dazu, das faktische oder potentielle Spannungsverhältnis<br />
zwischen Verfassungsrecht <strong>und</strong> Verfassungswirklichkeit zugunsten der<br />
letzteren abzubauen oder gar aufzuheben. Der Kommission erschien die Verfassung<br />
weitgehend als blosses Epiphänomen des politischen Systems: Verfassungsrevision<br />
erscheint in erster Linie als Anpassung des Gr<strong>und</strong>gesetzes an die<br />
vorherrschende Staatspraxis <strong>und</strong> an die dominierende Kräftekonstellation. Bereits<br />
wurde die Tendenz der Kommission erwähnt, Totalrevision als blosse Registrierung<br />
von externen Teilreformen zu verstehen. Bezüglich „vorparlamentarischem Gesetzgebungsverfahren“<br />
<strong>und</strong> Einfluss der Verbände auf die Gesetzgebung hielt die<br />
Kommission dafür, dass verfassungsrechtlich nichts unternommen werden könne,<br />
es sei denn, die bestehende Praxis in Verfassungsrechtsnormen zu übersetzen.<br />
Vor der Vorstellung, Verfassungsrechtsänderungen als Instrument für eine aktive<br />
<strong>und</strong> gezielte Umgestaltung der staatlichen Wirklichkeit zu betrachten, glaubte die<br />
Kommission wiederholt warnen zu müssen. 62 Im Referat von Kurt Eichenberger<br />
finden sich die folgenden bemerkenswerten Sätze:<br />
„Auch eine Schweiz mit parlamentarischem Regierungssystem würde sich angesichts<br />
ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Gr<strong>und</strong>ordnung mit grösster<br />
Wahrscheinlichkeit als Konkordanzdemokratie zu gestalten trachten. Und sie<br />
könnte es, weil die verfassungsrechtliche Festlegung des Regierungssystems im freien<br />
Staat nicht oder nur schwach auf das soziologisch-politische Zusammenspiel der pluralistischen<br />
Kräfte einwirkt.“ 63 (Hervorhebungen vom Verfasser)<br />
Hier schimmert die Auffassung durch, dass es den „freien Staat“ unabhängig von<br />
einem bestimmten Regierungssystem gibt, oder pointierter ausgedrückt, dass Freiheit<br />
wenig zu tun hat mit der formellen Verfassung. Solche Einschätzung der Verfassung<br />
widerspricht früherer politischer Rhetorik, welche die Verfassung als Garantin<br />
der Freiheit pries.<br />
Eine der Gr<strong>und</strong>ideen des modernen Konstitutionalismus besagt, dass durch geeignete<br />
Anordung von Staatsorganen, zielgerichtete Ausgestaltung von Institutionen<br />
<strong>und</strong> zweckmässige Abgrenzung von Verantwortlichkeiten die Wahrscheinlichkeit<br />
erhöht werden kann, einen politisch erwünschten Erfolg herbeizuführen. Durch die<br />
Ausscheidung dreier Gewalten beispielsweise gedachte man die Chance für<br />
Machtmissbrauch zu verringern. – Die Antithese zu dieser Auffassung würde etwa<br />
lauten: Verfassungsrechtliche Ingenieurarbeit vermag das politische Geschehen<br />
nicht in einer signifikanten Weise zu beeinflussen; denn das Verfassungsrecht gehört<br />
nicht zu den determinierenden Faktoren eines politischen Systems. Die erwähnte<br />
Antithese kann zu einer Einstellung führen, die wir als vorkonstitutionelle<br />
oder „Fürstenspiegel“-Mentalität zu nennen vorschlagen: Wie zur Zeit des Feudalismus<br />
bleibt weisen Männern nichts anderes übrig, als die Potentaten zu richtigem<br />
Tun <strong>und</strong> gutem Verhalten zu ermahnen. Nach dem Kommissionsreferat über „Regierung<br />
<strong>und</strong> Verwaltung“ zu schliessen, sollen in eine neue Verfassung Elemente<br />
eines „Fürstenspiegels“ eingefügt werden. Es ist bekannt, dass schweizerische<br />
B<strong>und</strong>esräte den Hauptteil ihrer Zeit den Belangen ihres eigenen Departements<br />
widmen <strong>und</strong> sich nur beiläufig mit<br />
62 SB Erster Teil, insbesondere S. 15 f., 31, 32 f., 54 f.<br />
63 SB S. 500.