Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
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fluss der elektronischen Massenmedien hindern die Schweiz daran, sich politischen<br />
Strömungen im Ausland zu verschliessen. Eine erhebliche Anzahl von Schweizern<br />
schaut nicht nur inländische, sondern regelmässig auch ausländische Fernsehprogramme.<br />
<strong>Politische</strong> Debatten über verschiedenste Themen in den Nachbarstaaten<br />
greifen nach einer gewissen zeitlichen Verzögerung meist auf die Schweiz über.<br />
Abwehrmechanismen gegenüber ausländischen Einflüssen konnten in der Zwischenkriegszeit<br />
leichter mobilisiert werden, da Europa damals zutiefst gespalten<br />
war <strong>und</strong> die Besinnung auf eigenständige nationale Werte als angemessener Reflex<br />
erschien. Die europäische Integrationsbewegung schuf ein neues Klima <strong>und</strong><br />
stellt die Schweiz einem homogeneren Europa gegenüber, dessen Einfluss man<br />
sich nicht leicht entziehen kann. Die Beschwörung des „Sonderfalls Schweiz“ beginnt<br />
an Wirkung zu verlieren.<br />
In mehreren westeuropäischen Staaten lässt sich ein Trend feststellen, der in Richtung<br />
einer Bipolarisierung im Sinne unseres Modells zeigt. England steht mit Zweiparteiensystem<br />
<strong>und</strong> alternierender Regierung heute nicht mehr allein da. Westdeutschland<br />
hat eine fast ebenso gute Annäherung an das Modell erreicht wie<br />
Grossbritannien. Der Stimmenanteil, den die beiden grössten Parteien in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
bei den B<strong>und</strong>estagswahlen zusammen erreichten, hat sich wie folgt<br />
entwickelt: 60,2 % (1949), 74,0 % (1953), 82,0 % (1957), 81,6 % (1961), 86,9 %<br />
(1965), 88,8 % (1969), 90,6 % (1972). 6 Die Grosse Koalition zwischen CDU/CSU<br />
<strong>und</strong> SPD von 1966–69 7 blieb Episode, <strong>und</strong> 1969 vollzog sich erstmals ein Machtwechsel,<br />
der die Linkskoalition SPD/FDP in die Regierung brachte.<br />
Maurice Duverger wies nach, dass in Frankreich bis zur Fünften Republik die jeweilige<br />
Rechte oder Linke nur während verschwindend kleinen Zeitperioden an der<br />
Macht war <strong>und</strong> das Land fast immer vom Zentrum regiert wurde (Je règne du marais“).<br />
8 Unter dem Einfluss eines Polarisierungsmechanismus in der neuen Verfassung<br />
(Präsidentenwahl), der Integrationskraft des Gaullismus auf der Rechten <strong>und</strong><br />
einer gewandelten Ausrichtung der Kommunisten hat sich dieses Gr<strong>und</strong>muster<br />
indessen geändert. Wahlbündnisse <strong>und</strong> Einigungsbestrebungen bei der Linken<br />
unter Einschluss der Kommunisten haben den traditionellen Zentrismus zurückgedrängt.<br />
9 Die Parlamentswahlen von 1973 festigten die Aussicht auf Bipolarisierung<br />
<strong>und</strong> Alternierungschancen in Frankreich, gelang es doch der vereinten Linken, sich<br />
zu einem gemeinsamen Programm durchzuringen. Die Präsidentschaftswahlen von<br />
1974 bestätigten den Trend.<br />
Von den Nachbarländern der Schweiz ist Italien am weitesten von unserem Modell<br />
entfernt. Die Democrazia cristiana <strong>und</strong> die Italienische Kommunistische Partei vermochten<br />
jedoch zusammen stets sehr hohe Prozentsätze der Stimmen auf sich zu<br />
vereinen (1948: 79,5 %; 1953: 62,6 %; 1958: 65,1 %; 1963: 63,6 %;<br />
6 Alfred Grosser/Henri Menudier, La vie politique en Allemagne féderale, Paris 1970, S. 324 f.; Rene<br />
Lasserre, „Les élections du 19 novembre 1972 en République fédérale allemande“, RFSP, Jg. 23, Nr.<br />
4, August 1973, S. 759.<br />
7 Zur Grossen Koalition in der BRD siehe: Alfred Grosser, „L’Allemagne de la grande coalition“, RFSP,<br />
Jg. 18, Nr. 2, April 1968, S. 238–256.<br />
8 Duverger, Démocratie (op. cit.).<br />
9 Francois Goguel äusserte Skepsis gegenüber der These einer zunehmenden Bipolarisierung in Frankreich:<br />
„Bipolarisation ou rénovation du centrisme“, RFSP, Jg. 17, Nr. 5, Oktober 1967, S. 918–928.