Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
Politische Innovation und Verfassungsreform - Badac
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
200<br />
(3) Denkbar ist ein Szenarium, nach welchem sich die Bipolarität nicht um eine<br />
sozio-ökonomische Konfliktsachse, sondern um eine konfessionelle herausbildet.<br />
Nicht die Sozialdemokraten stünden den Bürgerlichen gegenüber, sondern die<br />
Katholiken den Nichtkatholiken. 25 Die CVP würde zum Kristallisationspunkt des<br />
einen Pols <strong>und</strong> die Freisinnigen zu jenem des andern. Wir halten eine solche Eventualität<br />
für unwahrscheinlich. Zwar konnten aus dem letzten Jahrh<strong>und</strong>ert stammende<br />
konfessionelle Konflikte dank des geltenden Wahlrechts lange Zeit konserviert<br />
werden. Doch heute lassen sich keine konfessionellen Streitpunkte mehr nachweisen,<br />
die sich zur Gr<strong>und</strong>lage eines Parteiensystems machen liessen. Mit der Beseitigung<br />
der konfessionellen Ausnahmeartikel aus der B<strong>und</strong>esverfassung im Mai<br />
1973 hat die Schweiz auf B<strong>und</strong>esebene wohl den letzten konfessionspolitischen<br />
Konfliktstoff verloren. – Nach ihrem neuesten Programm von 1971 zu schliessen,<br />
erhebt die CVP keine spezifisch konfessionspolitischen Postulate mehr, sondern<br />
versucht, über ihre katholische Stammwählerschaft hinaus neue Wählerkreise anzusprechen.<br />
Je die Konfessionsgrenze signifikant zu überschreiten, dürfte jedoch<br />
für diese Partei sehr schwierig oder gar unmöglich sein.<br />
(4) Realistischer als das Szenarium von der konfessionalisierten Bipolarität ist jenes,<br />
das für eine längere Zeitspanne ein Dreiparteiensystem vorhersagt. Dieses<br />
Szenarium geht von der Annahme aus, dass es der CVP weiterhin gelingt, das<br />
Gros der praktizierenden Katholiken an sich zu binden. Diese Partei würde damit<br />
verhindern, dass der SP, obwohl in der Opposition, wesentliche „Einbrüche“ in die<br />
katholische Wählerschaft gelänge. Die SP ist jedoch, um die kritische Schwelle von<br />
40 Prozent Wählerstimmen erreichen zu können, in erheblichem Umfang auf katholische<br />
Stimmen angewiesen. – Wir halten dieses Dreiparteien-Szenarium für weniger<br />
wahrscheinlich als Szenarium (2). Mit dem Wegfall ernsthafter konfessionspolitischer<br />
Konfliktstoffe dürfte der Appel der CVP an die „Katholizität“ ihrer Wähler an<br />
Wirkung verlieren. In Belgien, den Niederlanden <strong>und</strong> Westdeutschland haben in<br />
jüngster Zeit katholische Wähler in einem durchaus ins Gewicht fallenden Ausmass<br />
begonnen, sozialdemokratische Parteien zu wählen. Henry H. Kerr sieht auch für<br />
die Schweiz einen solchen Einstellungswandel bei katholischen Wählern voraus:<br />
„As elsewhere, the Catholic Church is rapidly losing its hold over the partisan attitudes<br />
of its believers in Switzerland.“ 26 Dieser Autor basiert seine Prognose auf eine<br />
repräsentative Meinungsumfrage, welche das Departement de Science politique<br />
der Universität Genf in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Sozialpsychologie<br />
der Universität Zürich 1972 durchführte. Eine Altersgruppenanalyse<br />
ergab, dass mit abnehmendem Alter katholische Wähler weniger häufig die katholische<br />
Partei bevorzugen. Die Präferenz für Linksparteien (Sozialdemokraten, Kommunisten)<br />
ist bei jüngeren praktizierenden Katholiken erheblich grösser als bei<br />
älteren. Nach Kerr handelt es sich nicht um eine bloss biolo-<br />
25 Bei der schweizerischen Wohnbevölkerung ist der Anteil der Protestanten 1950 bis 1970 von 58,5 auf<br />
55 Prozent gefallen, derjenige der Katholiken von 41,3 auf 43 Prozent gestiegen. Bezüglich der Gesamtbevölkerung<br />
wurden 1970 erstmals mehr Katholiken als Protestanten gezählt (NZZ, Nr. 464,<br />
7.10.73, S. 35).<br />
26 Henry H. Kerr, Jr., Switzerland: Social Cleavages and Partisan Conflict, Sage Professional Papers in<br />
Contemporary Political Sociology, London 1974, S. 19.