You also want an ePaper? Increase the reach of your titles
YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.
Thomas Alexander Slezák<br />
weil er es mit Liebeszauber, Besprechungen und Zauberrädern ? (mit philtra, epōdai, und iynges) an<br />
sich binde (Xen.mem. 3.11.17). Ziehen wir die allzu krasse Selbstironie ab – die Iynx in der Hand des<br />
Sokrates müssen wir ja nicht wörtlich nehmen –, so bleibt die Information, daß<br />
Sokrates‘ erotisierende Wirkung wie bei Aischines und Platon so auch bei Xenophon fest zum Bild<br />
dieses Mannes gehörte.<br />
Daß Sokrates seine erastai nicht nur durch sein persönliches Charisma, sondern ebenso sehr<br />
durch philosophische Inhalte und Einsichten fesselte, ist bei allen Sokratikern als selbstverständlich<br />
vorausgesetzt. Doch welche inhaltlichen Positionen waren das, wenn es um den Eros ging? Es gab<br />
dazu keine technē, versichert uns Aischines, und kein mathēma (s.o.) Bei Xenophon gibt Sokrates vor<br />
seinem Bekenntnis zu seinem Liebeszauber der Theodote Ratschläge, wie sie bewirken könne, daß<br />
ihre Kunden sie noch mehr begehren und dann bei ihr bleiben – Ratschläge, die einer sehr simplen<br />
Psychologie entspringen und eigentlich von jedem, der auch nur einen bescheidenen Grad von<br />
‚common sense‘ besitzt, hätten gegeben werden können. An solchen Gedanken kann sich der<br />
platonische Sokrates mit seinem Anspruch auf epistasthai ta erōtika nicht gut orientiert haben. Platon<br />
läßt seinen Alkibiades danach verlangen, „alles zu hören, was Sokrates wußte“ (panta akousai hosaper<br />
houtos ēidei, 217 a4-5). In Dingen der Liebe wurde ihm bedeutet – und dies nicht nur in Worten<br />
(218d6 – 219a1), sondern auch durch die Tat (219b3 – d2) – daß sich sittliche Schönheit nicht gegen<br />
körperliche Schönheit eintauschen läßt. Die bloße Tatsache, daß er einen Versuch dazu machte, zeigt<br />
zur Genüge, daß er das Wesentliche an Sokrates‘ Denken nicht hinreichend verstanden hat. Dennoch<br />
ist er sich sicher, an den Logoi des Sokrates – er kennt nur Unterhaltungen vom Typ der aporetischen<br />
Frühdialoge (221 e1-6) – alles zu finden, was man brauche, um ein Mann von Charakter und Anstand<br />
zu werden (222a 5-6). Alkibiades‘ Streben, dem gängigen Ideal des kalos kagathos zu genügen zeigt,<br />
daß er – in platonische Terminologie übersetzt – an jener bürgerlichen oder populären Tugend, jener<br />
politikē oder dēmotikē aretē orientiert ist, die Platon anderswo so deutlich von der aretē, die die<br />
Philosophie verleiht, absetzt (Phdn. 82ab, Politeia 500d). Mag dieser leidenschaftliche erastēs die<br />
Einzigartigkeit des Sokrates als Charakter auch richtig erkannt haben (221d), über das philosophische<br />
‚Wissen‘, das seinen Anspruch auf ein seiner würdiges epistasthai ta erōtika rechtfertigen könnte,<br />
erfahren wir aus seinen Worten nichts Spezifisches. Die Rolle des Sokrates als paidika (222 b3)<br />
seiner zahlreichen erastai ist überdeutlich; welche Art von Wissen oder Nichtwissen zu dieser Rolle<br />
gehört, bleibt vorerst noch rätselhaft.<br />
In einer ganz anderen Rolle erscheint Sokrates nach der Rede des Agathon. Es ist seine<br />
Standardrolle, an die wohl auch Alkibiades gedacht haben mag, als er vom ‚Öffnen‘ der sokratischen<br />
Logoi sprach (221d7 – 222a6): die Rolle des schonungslosen Prüfers fremder Weisheit. In aller<br />
Freundschaft weist er dem jungen Tragödiendichter nach, daß alles, was er über den Eros gesagt hat,<br />
verkehrt war und daß er folglich ohne Wissen von seinem Gegenstand gesprochen hatte (201b 11-12).<br />
Der Eros ist weder schön noch gut, wie Agathon geglaubt hatte, denn er begehrt das Schöne, zu dem<br />
auch das Gute gehört, hat also beides nicht (199c – 201c). Agathon hatte offenbar den Eros als<br />
Streben verwechselt mit dem Objekt des Strebens. Die Weisheit des Agathon ist also aus überlegener<br />
Warte widerlegt, und die Widerlegung besteht lediglich in einem Aufweis der Unverträglichkeit von<br />
Agathons eigenen Annahmen. Der sokratische Elenchos braucht ja nichts als eine These des Gegners<br />
und die Zugeständnisse, die er auf einfache Fragen macht. Sein Ergebnis ist rein negativ und verweist<br />
als solches nicht auf eine eigene Weisheit, ein eigenes ‚Wissen‘ des Sokrates. In keiner der bisher<br />
untersuchten Rollen des Sokrates ist ein Können oder Wissen greifbar geworden, das den Anspruch<br />
des epistasthai ta erotika mit spezifischem Inhalt füllen könnte, denn selbst Sokrates‘ Überordnung<br />
der Arete über körperliche Schönheit ist etwas, das auch der konventionellen sophrosyne erreichbar<br />
wäre.<br />
Im Anschluß an das Gespräch mit Agathon enthüllt Sokrates nun aber, daß seine Widerlegung<br />
fremden Wissens ihrerseits auf fremdem Wissen beruhte. Er hatte nur den Elenchos wiederholt, dem<br />
Diotima seine eigenen früheren Ansichten unterzogen hatte. Mit der unerwarteten Berufung auf diese<br />
Figur kommt nunmehr konkretes Wissen über den Eros in den Dialog.<br />
Die Einführung Diotimas ist die radikalste Wendung im ganzen Dialog. Was die<br />
dramaturgische Gestaltung betrifft, so scheint zwar der Auftritt des Alkibiades nach der Diotima-Rede<br />
den stärkeren Einschnitt darzustellen, kommt doch der neue Mann in der Runde mit Musik und viel<br />
Lärm, mit reichem Bänderschmuck auf dem Kopf und in Begleitung anderer Zecher, darunter einer<br />
Flötenspielerin. Auch was er dann zu sagen hat ist extravagant genug – und doch betrifft es nichts<br />
unerhört Neues, sondern den allen bekannten Sokrates und bestätigt nur dessen bewährte sophrosyne.<br />
Diotima hingegen ist eine radikal andere Figur. Sie ist nicht Athenerin, sie kommt aus der Fremde (1).<br />
Sie ist Frau (2) und klärt Sokrates, einen Mann, über den Eros auf. Während die anderen als idiōtai<br />
sprechen, die von sich aus keinen ausgewiesenen Bezug zum Göttlichen haben, spricht sie als<br />
322