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Symposium - AIC

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Thomas Alexander Slezák<br />

Priesterin (3) zur Frage, ob Eros ein Gott sei. Sie äußert sich nicht in ungeplanten, zufälligen<br />

Gelegenheitsunterhaltungen, sie unterrichtet vielmehr ihren athenischen Schüler in immer wieder<br />

stattfindenden Lehrgesprächen (4) (206 b6, 207 a5-6). Und sie bleibt nicht beim bloßen Elenchos<br />

stehen, sondern schreitet fort zu positiven Aussagen (5) von großer Kühnheit. Dies aber tut sie nicht<br />

in protreptischer Dialogform (wie noch beim anfänglichen Elenchos), sondern in autoritativer<br />

Belehrung (6) (ab 207a).<br />

Die kühne, radikal andersartige Konzeption Diotimas als Dialogfigur ist der geeignete<br />

Rahmen für die Inhalte ihrer Rede, deren philosophische Neuartigkeit weit schockierender ist als die<br />

verstörende persönliche Erfahrung des Alkibiades. In dichter Folge erteilt die Priesterin aus Mantinea<br />

Belehrungen, von denen jede einzelne Thema und Ergebnis eines kürzeren oder auch mittleren<br />

Dialogs sein könnte. Diotima erklärt, daß der Eros (1) des Schönen nicht teilhaftig ist, und, da alles<br />

Gute auch schön ist, (2) auch des Guten nicht teilhaftig ist. Diesen doppelt negativen Einstieg in die<br />

Erörterung hatte Sokrates bereits an Agathon bei dessen Befragung weitergegeben. Und dennoch ist<br />

die zwingende Schlußfolgerung, die in dieser Aussage schon beschlossen liegt, wie ein weiterer harter<br />

Schlag gegen das gängige Eros-Bild: in Ermangelung des Schönen und des Guten kann Eros (3) auch<br />

kein Gott sein. Hier endet der elenktische Durchgang durch die Durchschnittsphilosophie des Eros,<br />

die auch Sokrates – wie er glauben machen will – anfangs vertrat. Es folgen positive Festlegungen<br />

von großer Tragweite. Der Eros ist (4) ein großer Daimon, dessen Seinsstatus nicht im Dunklen<br />

gelassen wird: er steht zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen. Überhaupt steht (5) alles<br />

Daimonische zwischen diesen beiden Bereichen, wobei es den Verkehr zwischen ihnen vermittelt,<br />

auch den Verkehr zwischen Göttern und Menschen durch Mantik, Opfer, Mysterien und<br />

Besprechungen, denn (6) ein Gott verkehrt nicht mit einem Menschen. Durch seine Mittelstellung<br />

füllt das Daimonion die Kluft zwischen beiden auf, so daß das All (7) mit sich selbst verbunden ist.<br />

Ein Mensch, der bezüglich dieser Dinge weise (sophos) ist, ist (8) ein ‚daimonischer<br />

Mann‘ (daimonios anēr), im Gegensatz zum Banausen, der über andere Dinge, etwa Künste und<br />

Handwerk, Bescheid weiß. (10) Die Eltern des Eros sind Poros und Penia, und er hat von beiden ihre<br />

charakteristischen Eigenschaften geerbt, die Mittellosigkeit von der Mutter, die Fähigkeit, sich das<br />

Erstrebte zu verschaffen, vom Vater. Daraus folgt, (11) daß Eros weder dauerhaft mittellos noch<br />

jemals dauerhaft reich ist an Einsicht, vielmehr steht er zwischen Weisheit und Unwissenheit in der<br />

Mitte, weil ihm das, was er gewonnen hat, wieder zerrinnt. (12) Kein Gott philosophiert und will<br />

weise werden, denn er ist es schon, und auch sonst philosophiert niemand, der weise ist. (13) Die<br />

Menschen verlangen nach nichts anderem als nach dem Guten, genauer nach dessen dauerhaftem<br />

Besitz, mithin (14) nach der Unsterblichkeit. Der Sinn des Zeugens im Schönen ist das (15)<br />

Anteilgewinnen an der Unsterblichkeit, sei es durch Fortpflanzung, sei es durch ewigen Ruhm, sei es<br />

durch geistige und moralische Hinterlassenschaft: auch die Dichter und Gesetzgeber ‚zeugen‘ in ihren<br />

Werken aretē für die Ewigkeit.<br />

Alles bisher Gesagte (201e – 209e) war nur Vorbereitung für das Eigentliche. Über die<br />

‚epoptische‘ Schau des Schönen selbst faßt sich Diotima vergleichsweise kurz (210a – 212a).<br />

Voraussetzung ist (16) ein Aufstieg über die verschiedenen Erscheinungsformen des Schönen bis hin<br />

zum (17) Ziel und Ende (télos) des erotischen Strebens (telos tōn erōtikōn), zum (18) plötzlich<br />

(exaiphnēs) erscheinenden Schönen selbst (auto to kalon). Der Weg dorthin ist klar festgelegt, und<br />

wer (19) ihn ‚richtig‘ (orthōs) beschreitet oder auf ihm ‚richtig‘ geführt wird (eān orthōs hēgētai ho<br />

hēgoumenos), kann das telos berühren. (20) Dieses schauende Zusammensein mit dem reinen und<br />

unvermischten Schönen selbst ist ein Zeugen wahrer aretē und bedeutet für den Schauenden<br />

vollkommenes Glück, Unsterblichkeit und Geliebtsein von Gott.<br />

Nach dieser Darbietung geballten Wissens über den Eros weiß der Leser: wenn irgend jemand<br />

in diesem Dialog dem Anspruch des epistasthai ta erōtika genügen kann, dann ist es die Fremde aus<br />

Mantinea. Sie ist Priesterin und spricht nicht dialogisch-protreptisch, sondern autoritativ als Lehrerin<br />

(vgl. 207 c6 didaskalōn deomai). Ihre Mitteilungen bietet sie als eine Analogie zur Einweihung in<br />

Mysterien (209e5 – 201a2), mithin zu einer religiösen Handlung. Die Riten der Mysterien aber<br />

müssen exakt den Vorschriften entsprechen. Daher ihr mehrfaches Betonen des ‚richtigen‘ (orthōs)<br />

Beschreitens des Weges und des ‚richtigen‘ Führens auf dem Weg (210 a2, 6, 211 b5, 7). Es kann<br />

keinem Zweifel unterliegen, daß sie ihrerseits ihren Initianden Sokrates richtig führt: Diotima ist die<br />

kompetente Mystagogin, unter ihrer Führung könnte Sokrates das télos erreichen. Das setzt voraus,<br />

daß sie selbst die Mysterien durchlaufen hat – eine Mystagogin, die nicht selbst eingeweiht wäre,<br />

wäre ein kompletter Widersinn. Diotima hat das Schöne selbst gesehen, sie weiß, wovon sie redet.<br />

Ungeachtet der Neuartigkeit der Enthüllungen Diotimas haben viele ihrer Aussagen Parallelen,<br />

zum Teil sogar sehr enge Parallelen, in anderen Dialogen. Das All ist in sich verbunden, sagt Diotima<br />

(202 e6-7) – das ist auch die Auffassung der ‚Weisen‘ (sophoi), auf die sich Sokrates im Gorgias<br />

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