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Symposium - AIC

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Thomas Alexander Slezák<br />

(507e6 – 508a4) beruft, und der Priester und Priesterinnen, deren Meinung er Menon 81c9 – d1<br />

wiedergibt. Ebenso denkt der Sokrates der Politeia, daß der Dialektiker zu einer Zusammenschau der<br />

‚Verwandtschaft‘ (oikeiotēs) der mathematischen Wissenschaften untereinander und mit der Natur<br />

des Seienden gelangen muß (Pol. 537 c2-3), was auch der ‚Athener‘ der Nomoi (unter Verwendung<br />

des Wortes Gemeinschaft, koinōnia) vertritt (967 e2-3). Wer ‚weise‘ ist in Dingen der Liebe, den hält<br />

Diotima für einen daimonios anēr und unterscheidet ihn vom Banausen (203 a4-6), ganz wie Sokrates<br />

im Exkurs des Theaitetos die für den Menschen entscheidende ‚Weisheit‘ vom banausischen Wissen<br />

absetzt (176 c4-d1). Kein Gott philosophiert nach Ansicht der mantineischen Priesterin, und auch<br />

sonst keiner, der weise ist (204 a1-2) – ganz ähnlich hatte Sokrates im Lysis das Philosophieren denen<br />

abgesprochen, die schon weise sind, „ob diese nun Götter sind oder Menschen“ (218 a2-4). Was die<br />

Menschen letztlich erstreben, ist das Gute, erklärt Diotima (205e7 – 206a12), durchaus in<br />

Übereinstimmung mit dem Sokrates der Politeia, der vom Guten sagt, es sei das „was jede Seele<br />

verfolgt und worumwillen sie alles macht“ (505 d11-e1). Und wenn Diotima einen gestuften Aufstieg<br />

zum Ziel der Erkenntnis skizziert (201a-e), so ist sie offenbar in unmittelbarer philosophischer Nähe<br />

zum methodisch geregelten Weg über die Stufen der Hypothesen hinauf zum voraussetzungslosen<br />

Prinzip von allem (Politeia 511 b3-7) bzw. zum ‚Hinreichenden‘ (hikanon) schlechthin (Phdn. 101 d3e1).<br />

Bei richtigem Beschreiten des Weges oder bei richtigem Geführtwerden ist das Erreichen des<br />

télos möglich – mit dieser Überzeugung (210 e2-6, 211 b5-7, c8, 212 a1-7) trifft sie sich abermals mit<br />

dem Sokrates der Politeia, der die Dialektik – das ist das per definitionem richtige geistige<br />

Voranschreiten – als den einzigen Weg zur archē und zum télos sieht (533 c7-d1, 504 d3, vgl. 532 e3).<br />

Und was Diotimas Schilderung der abschließenden Glückserfahrung (211e4 – 212b7) betrifft, so hat<br />

sie eine im Werk Platons einmalige Punkt- für Punkt- Entsprechung in Sokrates‘ analoger Schilderung<br />

des Aufhörens des Eros und der Geburtswehen (apolēgoi erōtos, lēgoi ōdinos) beim Erreichen des<br />

Erkenntnisziels durch den wahren philomathēs (Politeia 490 a8-b7): an beiden Stellen ist vom<br />

‚Berühren‘ des Erkenntnisobjekts die Rede, von dem Teil der Seele, dem das zukommt und von seiner<br />

Verwandtschaft mit ihm, von ‚Zusammensein‘ und ‚Vermischung‘ mit ihm und vom Zeugen wahrer<br />

aretē bzw. Einsicht und Wahrheit, und schließlich vom wahrhaften Leben, das auf diese Weise<br />

erreicht wird.<br />

Man sieht: so fremdartig Diotima auch erscheinen mag nach ihrer Herkunft, ihrem Beruf und<br />

ihrem Lehrhabitus, intellektuell erweist sie sich doch als Zwillingsschwester des unpriesterlichen,<br />

urbanen, dialogisch vorgehenden Atheners Sokrates. So daß die Frage nunmehr unvermeidlich wird:<br />

wer ist diese Diotima wirklich? Daß es in Mantineia einmal eine Priesterin dieses Namens gegeben<br />

hat, ist gut möglich (wenn auch durch keine außerplatonische Quelle belegt). Daß aber diese<br />

Priesterin Sokrates regelmäßigen Philosophieunterricht erteilt hat, ist durchsichtige poetische Fiktion.<br />

Platon hätte leicht einen quasi-historischen Rahmen für Diotimas Unterweisungen angeben können.<br />

Wir finden nichts davon im Text, und es fragt auch keiner der Teilnehmer des Gastmahls: „wann und<br />

wo pflegtest du, Sokrates, die Priesterin zu treffen, und warum hast du uns nicht früher schon von ihr<br />

berichtet?“ Die in sich gänzlich unglaubwürdigen Begegnungen werden erzählerisch völlig von der<br />

athenischen Alltagsrealität isoliert. Der Leser soll sie dadurch als reine Fiktion erkennen. Wir haben<br />

Diotima als Maske des Sokrates zu verstehen. Somit liegt vom Ende der Widerlegung des Agathon<br />

(201 d1) bis zum Auftreten des Alkibiades ein geschlossener Monolog des Sokrates vor (201d – 212c),<br />

der in seiner ersten Hälfte (bis 207a) dialogisiert wird, aber nur formal.<br />

Das Wissen der Diotima ist also Wissen des Sokrates. Wo und wann kann er dieses Wissen<br />

gewonnen haben? Etwa im Gespräch mit Partnern wie Agathon, Pausanias und den anderen? Oder<br />

beim vertrauten Umgang mit Alkibiades (der sich ihm effektiv entzog)? Man muß diese Frage nur<br />

stellen, um zu sehen, daß kein Weg führt von den stadtbekannten Alltagsbeschäftigungen des Sokrates,<br />

die ihm auch die Ankläger vorwarfen, nämlich strenge Befragung von Spezialisten (hier des<br />

Spezialisten für die Tragödie Agathon) und Verkehr mit blidlungswilligen Jünglingen (hier vertreten<br />

durch den schönsten von ihnen, Alkibiades) zur geistigen Welt der Diotima. Die Kluft zwischen der<br />

´Mysterien´-Auffassung des Eros und der gängigen – die trotz der interessanten Variationen bei<br />

Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes, Agathon und Alkibiades durch ein gemeinsames<br />

intellektuelles und ethisches Niveau zusammengehalten wird – ist so groß, daß es der erwähnten<br />

dramaturgischen Isolierung und der Einführung einer neuen, gänzlich unwahrscheinlichen dramatis<br />

persona bedurfte, um das Nebeneinander der zwei inkommensurablen geistigen Welten erträglich zu<br />

machen.<br />

Die Frage nach dem Zugang zu dieser anderen Sicht des Eros kann in zweifacher Weise<br />

gestellt werden: (a) sachlich-philosophisch und (b) biographisch. (a) Die philosophische Antwort<br />

kann nur lauten: beim Anblick des diesseitigen Schönen kommt jenen Seelen, die über hinreichende<br />

Erinnerung (mnēmē, Phdr. 250 a5) an das jenseits Geschaute verfügen, die Wiedererinnerung,<br />

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