Faschismus-Theorien (VI) / Diskussion - Berliner Institut für kritische ...
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Philosophie 405<br />
zusammengenommenen Zahl der Vertreter der beiden anderen Stände;<br />
Abstimmung nach Köpfen) als unzureichend, fegte dann alle königlichen<br />
Präventivmaßnahmen von Calonne bis Necker vom Tisch<br />
und gipfelte in dem vom Selbstbewußtsein der aufsteigenden sozialen<br />
Klasse getragenen Satz, daß der Dritte Stand sich zur Nationalversammlung<br />
erklären werde.<br />
Dem Herausgeber, der die beiden Texte recht gut neuübertragen<br />
hat, ist die oben angedeutete Rolle Sieyès in der Revolution allerdings<br />
verschlossen geblieben. Er faßt Anfang und Ende der politischen<br />
Laufbahn Sieyès ins Auge und folgert: „Der Weg vom Aufstand<br />
gegen eine etablierte Macht zur Etablierung einer Diktatur war<br />
gradlinig" (7). Sieyès' Fehler habe darin bestanden, belehrt Foersterj<br />
uns weiter, daß er von allgemeinen Wahrheiten und dem Gemeinwillen<br />
ausgegangen sei. Wer von solchen „Fiktionen" und „Ideologien"<br />
ausgehe, nun, der lande eben bei Eliten, bei einem neuen Mythos,<br />
und das gelte prinzipiell in gleicher Weise für den sowjetischen Kommunismus<br />
wie für den Gaullismus, ja offenbar auch für die studentische<br />
Bewegung unserer Tage.<br />
Es ist auffallend, daß diese ungeschichtliche Betrachtungsweise<br />
nicht mehr, wie bislang üblich, an Robespierre oder Marat, sondern<br />
bereits an gemäßigt-bourgeoisen Geistern, genauer: an der kurzen<br />
Phase, in der selbst die Sieyès, Condorcet, Lafayette & Co ad majorem<br />
societatis civilis gloriam revolutionär-militant wurden, entfaltet<br />
wird. Zu diesem Zeitpunkt nämlich bildeten die von Foerster zu Fiktionen<br />
herabgewürdigten „allgemeinen Wahrheiten", die der feudalen<br />
Absonderung entgegengehalten wurden, und der rousseauistische<br />
Gemeinwille, der die Nation erst möglich machte, die wirksamsten,<br />
weil das Volk politisierenden, Waffen der Bourgeoisie. Zur Fiktion<br />
wurde der Gemeinwille erst, als die Bourgeoisie ihre Privatinteressen<br />
gegenüber dem mobilisierten Volk durchsetzen mußte, als sie im<br />
Namen der volonté générale Zensuswahlrecht und Nationalgarde gegen<br />
die revoltierenden Massen aufbot.<br />
Da Foerster auch dieser Zusammenhang entgangen ist, hält er<br />
Sieyès vor, dieser habe sich „mehr als andere ... auf pure Agitation"<br />
(17) eingelassen und seine „Abhandlung" stelle eine „Verhöhnung<br />
des Adels" dar. Das „aristokratische Prinzip" der Montesquieuschen<br />
Gewaltenteilung habe Sieyès verworfen. Etwas besonderes Neues sei<br />
ihm auch nicht eingefallen: von Rousseau den Gemeinwillen, von<br />
England die Repräsentation, von Montesquieu die Gewaltenteilung.<br />
Schließlich habe die Bourgeoisie an Stelle der alten nur eine neue<br />
Herrschaft begründet. Erlösung aus diesem fatalen Zirkel (Aufstand<br />
gegen etablierte Macht — Etablierung einer neuen Macht) könne nur<br />
die „pluralistische(n), parlamentarische(n) Demokratie ursprünglich<br />
englischer Provenienz" bringen, „die ungleich schwieriger zu handhaben,<br />
ungleich labiler und sichtbarer der Korruption ausgesetzt ist",<br />
die aber „den wirklichen Zustand der Gesellschaft ohne Fiktionen"<br />
(20 f.) widerspiegelt. Vor einer derart platten Theoriefeindlichkeit<br />
kann nur eindringlich gewarnt werden.<br />
Dietfrid Krause-Vilmar (Marburg/Lahn)