Faschismus-Theorien (VI) / Diskussion - Berliner Institut für kritische ...
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Philosophie 421<br />
der verschiedenen, unabhängigen ethischen Instanzen zu vereinbaren?<br />
Gehlen sagt: gar nicht; im Normalfall leben die Menschen im<br />
„Durcheinander mittlerer Tugendhaftigkeit" (26), die Unvereinbarkeit<br />
der ethischen Instanzen wird nicht bemerkt. Erst in krisenhaften<br />
Situationen — Revolutionen, Niederlagen —, die „extreme<br />
Lösungen erfordern" (26), wird die Unvereinbarkeit ethischer<br />
Normen erlebt und wird die Vereinbarkeit der Normen zur ethischen<br />
sehen Forderung. Das aber ist ein Lösungsversuch, der selber Symptom<br />
der Krise ist, gegen die er Abhilfe schaffen soll. Eine Ethik,<br />
die aus der Bewältigung krisenhafter Situationen das Maß<br />
ihrer Forderungen ableitet, wird im Überschreiten der natürlichen<br />
Grenzen zwischen den Instanzen „hypertroph" und aggressiv.<br />
Nach Gehlen ist also das Problem der Vereinbarkeit unabhängiger<br />
ethischer Instanzen nicht ein Problem seines ethischen Pluralismus,<br />
sondern ein Problem der „Hypermoral". Damit ist aber Gehlen das<br />
Problem keineswegs los. Denn die Geschichte, gerade auch wie Gehlen<br />
sie selber bemüht, besteht aus solchen Krisensituationen. Ihnen<br />
gegenüber erweist sich sein ethischer Pluralismus als Konstrukt, besser<br />
geeignet zu taktisch-rhetorischen als zu analytischen Zwecken.<br />
Folgerichtig, wenn auch unvermerkt, reduziert sich sein Pluralismus<br />
auf die Polarität zweier ethischer Programme, von denen aber nur<br />
eines das Recht der Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann: Gegenüber<br />
stehen sich die „humanitär-masseneudaimonistische Gesinnungsmoral"<br />
(149) auf der einen Seite und das Ethos der <strong>Institut</strong>ionen,<br />
angeführt vom Staat, auf der anderen Seite. Die erstere entstammt<br />
elementaren Schutz- und Pflegereaktionen, die aus ihrer Einbettung<br />
in die Familie in das Bezugssystem Menschheit „erweitert"<br />
wurden. Ihre Tugenden sind pazifistisch und anarchistisch, ihr Bild<br />
vom Glück ist die „Lämmerweide", der „friedliche Naturzustand des<br />
Grasens" (18), die von ihr legitimierte Haltung zum Wert ist „Anspruch",<br />
ihre Grundeinstellung „parasitär". Die endgültigen Niederlagen<br />
von Klassen bzw. Staaten, ihre Einverleibung in größere soziale<br />
und politische Einheiten, sind ihre Blütezeiten und die Situationen<br />
ihrer schubweisen Verbreitung. Als Demutshaltung der Besiegten<br />
verdrängt sie, von den Siegern gefördert, das Ethos der unterlegenen<br />
<strong>Institut</strong>ionen, als Ressentiment der Umwertung der Werte<br />
zersetzt sie aber auch die alten Tugenden der Sieger, verbreitet sich<br />
in der „Eroberung der Eroberer" (30). Ihr Siegeszug reicht in Gehlens<br />
Buch von der Niederlage Athens im peleponnesischen Krieg über<br />
Hellenismus, Christentum, Aufklärung und französische Revolution<br />
bis hin zur Kapitulation des deutschen Imperialismus. Allein die verbliebenen<br />
Großmächte verhindern in ihrem Kampf um die absolute<br />
Macht einstweilen noch den totalen Sieg der „Hypermoral", die das<br />
„Reich der verkehrten Welt" (185) aufrichten will, in der der Antichrist<br />
die „Maske des Erlösers" (185) trägt. Träger und Nutznießer<br />
dieser Entwicklung sind die Intellektuellen. Denn die politische Realität<br />
hinter der Moral des Massenglücks und der allgemeinen Gleichheit<br />
ist der Anspruch der Intellektuellen auf Alleinherrschaft. Die<br />
vom Absolutheitsanspruch der humanitären Moral freigesetzte Ag-