Faschismus-Theorien (VI) / Diskussion - Berliner Institut für kritische ...
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Philosophie 423<br />
die in die Familie eingebetteten Schutz- und Pflegereaktionen sind<br />
davon betroffen; so können auch nur sie hypertroph werden! Gehlen,<br />
spricht nur von der Rolle der kosmopolitischen Ideologen bei der humanitären<br />
Erweiterung der Familiensolidarität. Daß die als Staaten<br />
entstehenden größeren sozialen Einheiten sich der Erweiterbarkeit<br />
des Familienethos zu Integrations- und Legitimationszwecken immer<br />
bedient haben — und das auch gerade gegen die Tendenz des Familienverhaltens<br />
zu Autarkie und Isolation —, verschweigt er. Offenbar<br />
liegt hier für ihn kein ethisches Problem. Solange die Reichweite des<br />
Staates das Maß der Erweiterung der Familiensolidarität ist, Staatsethos<br />
also Familienethos dominiert, ist für ihn nichts zu diskutieren.<br />
Ein erstaunlicher ethischer Pluralismus, der mit dem ethischen Monopol<br />
des Staates steht und fällt, und für den an den Staatsgrenzen die<br />
Moral aufhört und die Hypermoral anfängt!<br />
Hier stößt man auch auf den Hauptwiderspruch des Buches. Obwohl<br />
die Erweiterbarkeit der instinktartigen Sozialregulationen für<br />
Gehlen unter die existenzerhaltenden Merkmale der Spezies Mensch<br />
gehört und obwohl Erweiterung der Sozialregulationen auch für ihn<br />
den Leitfaden der Geschichte abgibt, registriert er die Entstehung<br />
größerer sozialer und politischer Einheiten als Niederlage der früheren<br />
autochthonen Gebilde und verrechnet die „Moral der Erweiterung",<br />
den Humanitarismus, unter die Merkmale der Dekadenz. In<br />
diesen mißlichen Widerspruch gerät Gehlen, weil er die Triebkraft<br />
hinter der Erweiterung der ethischen Dispositionen und der <strong>Institut</strong>ionen,<br />
die Entwicklung der Produktivkräfte, aus seinem Urteil verdrängt.<br />
Stehengeblieben bei einem friderizianischen Staatsbegriff,<br />
wird ihm zum Maß der Erweiterung moralischer Verkehrsformen der<br />
Staat, der selber von der Entwicklung der Produktivkräfte betroffen<br />
ist und dessen Veränderungen nur im Zusammenhang mit ihr begriffen<br />
werden können. So kommt es, daß Gehlen einen Kampf unter<br />
falschen Titeln führt. Der Staat, dessen moralische Souveränität Gehlen<br />
wiederherstellen möchte, hat an Macht durch seine Verflechtung<br />
mit der Produktionssphäre so zugenommen, daß er eines eigenen<br />
distanzierenden Ethos nur sehr eingeschränkt mehr bedarf. Gehlens<br />
Ideal der Politik einer askesewilligen, distanzierten Elite von Staatsfunktionären<br />
ist gemessen an der Realität spätkapitalistischer Politik<br />
reaktionär; reaktionärer als Nixons CDU es erlaubt. Kaum wird sie<br />
Gehlens Reserveoffiziersethik für Springers Bildzeitung eintauschen.<br />
Die Vorschläge des Ultrakonservativen sind nicht effektiv genug.<br />
Er verkennt Funktion und Wirkungsgrad dessen, was er als<br />
familiarisierende Verbiederung der Politik bekämpft; denn damit<br />
hat er nicht die Eroberung der Politik durch Ausgleichs- und Befriedungsvorstellungen<br />
familienbezogener Moral vor sich, sondern die<br />
Eroberung der Privatheit durch die Politik — und das gerade zu<br />
Zwecken, denen auch sein Buch verpflichtet ist, nämlich zur Abwehr<br />
kollektiver Veränderung der herrschenden Produktionsverhältnisse.<br />
Weil Gehlen die Welt nicht mehr versteht, interpretiert er sie von<br />
der Niederlage des NS-Reiches her. Die von ihm unter dem Titel<br />
„Aufklärung" schon immer bekämpften Positionen erscheinen erst-