Faschismus-Theorien (VI) / Diskussion - Berliner Institut für kritische ...
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Philosophie 419<br />
ding sodann die Hauptlinien der Sorelschen Theorie anhand von deren<br />
Wirkung und nicht der Intentionen Sorels erfassen.<br />
Sieht man von der Sorelschen Mythoslehre und der in sie eingebauten<br />
Gewalttheorie ab, so finden sich in Sorels Schriften kaum originäre<br />
Gedankengänge. In der Literatur wurde Sorels Werk zu Recht<br />
Rezensionscharakter zugeschrieben, wobei die diversen zeitgenössischen<br />
Ansätze teils zustimmend, teils ablehnend, ohne weitere Reflexion<br />
und Begründung und ungetreu dazu referiert werden. Der<br />
stärkste Einfluß kommt wohl von Proudhon. Schon in Sorels Erstlingswerk<br />
„Le Procès de Socrate" kann Berding diesen Einfluß nachweisen<br />
(23 ff.). Nur hatte Sorel an Proudhon zu kritisieren, daß dieser<br />
„noch zu sehr im Banne der Hegeischen Metaphysik philosophiert"<br />
(24) und somit noch ein Stück Rationalismus rette, ohne zu erkennen,<br />
daß dieser Rationalismus gerade die Ursache der „Kulturkrise der<br />
Gegenwart" sei. Auch wird in diesem Erstlingswerk die Grundintention<br />
Sorels deutlich: nämlich Moralisierung der Zeitprobleme und moralische<br />
Belebung der sozialen Kräfte der Gegenwart zur Überwindung<br />
der Kulturkrise. Sorel haßt das Bürgertum — nicht, weil es als<br />
arrivierte Klasse reaktionär geworden ist, sondern einmal, weil es<br />
nicht mehr kämpferisch ist, und zum anderen, weil es diejenige soziale<br />
Kraft ist, die den modernen Rationalismus hervorgebracht hat.<br />
Berding zeigt, wie sich Sorel der Marxschen Ideologiekritik bedient<br />
(35 ff.), um die Philosophie der Aufklärung als Ideologie einer Klasse,<br />
des Bürgertums, zu dechiffrieren, wobei Berding leider nicht deutlich<br />
genug herausarbeitet, daß diese Sorelsche „Ideologiekritik" nur<br />
scheinbar und rein formal der Marxschen ähnelt. Denn Sorel kritisiert<br />
nicht die nicht eingelösten Ansprüche des frühbürgerlichen Denkens,<br />
sondern dieses Denken überhaupt, das er als Gesamtheit verbal<br />
ablehnt. Dem Proletariat, das Sorel gegen das Bürgertum mobilisieren<br />
und zum Träger seiner Theorie machen will, spricht er nur das<br />
eine Ziel zu: das Kämpferische als moralisch-ästhetisches Moment<br />
wiederherzustellen; nicht aber geht es Sorel um die Emanzipation<br />
des Proletariats. Die Eskamotierung der emanzipativen Gehalte des<br />
Marxismus wird am deutlichsten in der „lebensphilosophischen Umdeutung<br />
des historischen Materialismus" (65 ff.), bei der Sorel die<br />
Marxsche Theorie ihres Inhalts entleert und sie mit Bergsonscher<br />
Substanz füllt, so daß letztlich — wie Berding im einzelnen nachweist<br />
— vom Marxismus, unter dem Deckmantel der Bekämpfung der orthodoxen<br />
Marxisten mit Marx selber, nur der Name bleibt.<br />
Nachdem Berding die Sorelsche Gewalttheorie ausführlich in dem<br />
dritten und letzten Kapitel (94 ff.) analysiert hat, behandelt er deren<br />
Auswirkung auf den italienischen <strong>Faschismus</strong>. Die Sorelsche Theorie,<br />
die ihrer Intention nach „gegen totale Herrschaft, Staatsomnipotenz,<br />
Demagogie und Unterdrückung gerichtet" war (143), wird — ohne daß<br />
ihr Zwang angetan werden muß — zum ideologischen Instrument des<br />
<strong>Faschismus</strong>. Sorels entwissenschaftlichter und mythologisierter „Marxismus"<br />
und dessen historische Wirkung bestätigten die immer aufs<br />
neue aktualisierte Erkenntnis: „Der Sozialismus ist wissenschaftlich<br />
oder er ist nicht" (Haug).<br />
Bassam Tibi (Frankfurt/M.)