Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Taner Akçam<br />
sei. Nach Meinung <strong>der</strong> Geistlichkeit (religiöse Bürokratie) hatte <strong>der</strong> Zerfall<br />
religiöse Gründe. Die Osmanen waren ihren Pflichten als Moslems nicht mehr<br />
nachgekommen <strong>und</strong> verloren <strong>aus</strong> diesem Gr<strong>und</strong> die göttliche Macht <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Zeit, als<br />
ihr Glaube noch stark war.<br />
Das Militär wie auch die Beamten innerhalb <strong>der</strong> staatlichen Bürokratie machten<br />
für den Zerfall des Reiches eine Störung des Verwaltungsmechanismus <strong>und</strong> die<br />
Ernennung von unqualifizierten Verantwortungsträgern verantwortlich. Die<br />
Nie<strong>der</strong>lagen dieser Zeit wurden im wesentlichen als militärische Nie<strong>der</strong>lagen<br />
angesehen. Die Frage war nun, ob <strong>der</strong> Staat durch eine Rückkehr zur Religion o<strong>der</strong><br />
durch die Übernahme von erfolgreich erscheinenden westlichen Institutionen zu<br />
retten sei.<br />
Die letztere Ansicht gewann die Oberhand. Man begann damit, militärische<br />
Modelle vom Westen zu übernehmen. Es folgte die Übernahme eines westlichen<br />
Rechts- <strong>und</strong> Bildungssystems. Diese Phase (nach 1850) ist als Verwestlichungsprozeß<br />
bekannt. Nun verloren die religiösen Autoritäten auch im Verwaltungsapparat<br />
langsam an Einfluß. Es sollte festgehalten werden, daß dies ohne großen<br />
Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Ulema stattfand, denn unabhängig vom Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> einzelnen<br />
Personen (religiös o<strong>der</strong> weltlich) ging es allen um die Staatsraison, d.h. <strong>der</strong> Staat<br />
hatte schon immer den Vorrang vor <strong>der</strong> Religion.<br />
Dies läßt sich an <strong>der</strong> Tatsache verdeutlichen, daß <strong>der</strong> Scheich ül-Islam vom<br />
Wesir ernannt wurde <strong>und</strong> über Jahrh<strong>und</strong>erte nicht zum Divan gehörte. In Fällen, in<br />
denen Erlasse o<strong>der</strong> Gesetze des Sultans offensichtlich gegen religiöse Prinzipien<br />
verstießen, duldeten sie mit einem "Fetwa", daß bürokratische Maßnahmen nach<br />
Gutdünken getroffen werden konnten.<br />
Man kann auch sagen, daß <strong>der</strong> Laizismus eine Antwort auf die Frage war, wie<br />
<strong>der</strong> Zerfall des Staates aufgehalten werden konnte. Das war mit einem Zivilisationswechsel<br />
verb<strong>und</strong>en, d.h. man mußte langsam, aber sicher westliche Standards<br />
übernehmen. Das ist ein wichtiger Unterschied des Laizismus in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> zu<br />
seiner Erscheinung im Westen. Der Kampf zwischen Kirche <strong>und</strong> Staat hatte im<br />
Westen immer die gleiche Gr<strong>und</strong>lage, d.h. es fand kein Zivilisationswechsel statt. In<br />
<strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> aber war es ein von oben verordneter Zivilisationswechsel, denn die<br />
vorgesehene Gleichstellung aller osmanischen Bürger war nach dem islamischen<br />
Recht nicht möglich, da fast die Hälfte von ihnen Christen waren. Man mußte sich<br />
also bei <strong>der</strong> Gründung eines mo<strong>der</strong>nen Staates gegen den Islam <strong>und</strong> die islamische<br />
Staatstradition durchsetzen.<br />
Hier möchte ich auf einige wichtige Merkmale des türkischen Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses<br />
hinweisen. Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>und</strong> Laizismus als zwei seiner Aspekte<br />
wurden von oben als eine Rettungsaktion des Staates verordnet. Das heißt, die<br />
Mo<strong>der</strong>nisierung des Staatsaparats ging <strong>der</strong> gesellschaftlichen Mo<strong>der</strong>nisierung<br />
vor<strong>aus</strong>. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e fand sie nur als eine Verschiebung des Kräfteverhältnissse<br />
im Staatsapparat zuungunsten <strong>der</strong> religiösen Bürokratie statt, was zu<br />
einer Verengung <strong>der</strong> herrschenden Klassen führte. Da dieser Prozeß hauptsächlich