Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Der türkische Nationalisierungsprozeß <strong>und</strong> <strong>der</strong> Laizismus<br />
als graduelle Ausgrenzung <strong>der</strong> religiösen Kräfte <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Macht stattfand, bedeutete<br />
er keine Erweiterung <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Macht beteiligten Oberschicht.<br />
Mo<strong>der</strong>nisierung ist ein Prozeß, in dem die Gesellschaft sich differenziert <strong>und</strong><br />
gleichzeitig zentralisiert. Ein Merkmal dieses Prozesses ist die Entwicklung neuer<br />
gesellschaftlicher Gruppen <strong>und</strong> Institutionen, die diese Gruppen in die<br />
Zentralstruktur einbinden. Aber aufgr<strong>und</strong> des osmanischen Staatscharakters wurde<br />
die Entstehung von mo<strong>der</strong>nen Klassen, die sich an <strong>der</strong> Macht hätten beteiligen<br />
können, im Keim erstickt. Die osmanischen Herrscher verfolgten in <strong>der</strong> Zerfallsperiode<br />
des Reiches die Erweiterung <strong>der</strong> Oberschicht im Sinne einer Integration<br />
<strong>der</strong> unteren Klassen in ein gemeinsames nationales Leben nicht mit dem<br />
notwendigen Interesse. Es gab keine Erweiterung des <strong>Zentrum</strong>s. Das ist ein<br />
Phänomen, das wir auch heute noch beobachten.<br />
Eine an<strong>der</strong>es Charakteristikum ist, daß diese Mo<strong>der</strong>nisierung nicht als gewollter<br />
Akt durchgeführt wurde, son<strong>der</strong>n als eine erzwungene Maßnahme, um die<br />
Überlegenheit des Westen zu wi<strong>der</strong>legen. Deshalb war sie ein schmerzhafter<br />
Prozeß. Seit jener Zeit gibt es eine permanente Diskussion darüber, inwieweit<br />
Modelle des Westens zu übernehmen sind o<strong>der</strong> nicht. Ich möchte dies als kulturelle<br />
Schizophrenie bezeichnen, von <strong>der</strong> wir uns immer noch nicht befreit haben. Damit<br />
meine ich, daß das osmanische Reich als Weltmacht im Mittelpunkt <strong>der</strong> Geschichte<br />
gestanden hatte, seine Vertreter aber einsehen mußten, daß sie geschwächt <strong>und</strong><br />
machtlos geworden waren. Durch die zunächst militärische Überlegenheit des<br />
Westens entstand ab dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert das neue Bewußtsein, daß all jene, die<br />
sich nicht an das Schlepptau des Westens hängten, d.h. nicht zu diesem "Club"<br />
gezählt wurden, als Anhängsel <strong>der</strong> Geschichte betrachtet wurden. Es galt, erst<br />
einmal den psychischen Schock des Unterlegenseins zu verkraften, wobei man sich<br />
in einer permanenten Aufholjagd befand. Dabei war man gezwungen, gegen die<br />
selbst geschaffenen Werte (islamische Kultur <strong>und</strong> Institutionen) auf fremde Werte<br />
zurückzugreifen. Um das Dilemma zu handhaben, wurde ein Unterschied zwischen<br />
Kultur <strong>und</strong> Zivilisation gemacht <strong>und</strong> die Frage gestellt, ob es nicht sinnvoller sei,<br />
nur die Technologie des Westens zu übernehmen <strong>und</strong> auf die Übernahme kultureller<br />
Werte zu verzichten.<br />
Die Republik <strong>Türkei</strong> war eine radikale Antwort auf diese Fragen des Inhalts, daß<br />
alles vom Westen zu übernehmen sei. Es ging um ein totales Programm. In bezug<br />
auf das Verhältnis Laizismus-Mo<strong>der</strong>nisierung sollte man drei Ebenen näher<br />
beleuchten.<br />
Der erste Aspekt bezieht sich auf das Verhältnis <strong>der</strong> Trennung von Staat <strong>und</strong><br />
Religion. Die osmanische Tradition wurde in <strong>der</strong> Hinsicht fortgeführt, daß den<br />
religiösen Autoritäten Aufgaben entzogen wurden. Das gipfelte in <strong>der</strong> Abschaffung<br />
des Khalifats im Jahre 1924. Von nun an wurde die Herrschaft nicht mehr religiös<br />
begründet, son<strong>der</strong>n orientierte sich am westlichen Prinzip, daß alle Macht vom Volk<br />
<strong>aus</strong>geht. 1928 wurde eine entsprechende Verfassungsän<strong>der</strong>ung vorgenommen; <strong>der</strong><br />
Artikel, in dem <strong>der</strong> Islam als Staatsreligion festgeschrieben war, wurde abgeschafft.<br />
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