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Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...

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Individualisierung durch den Islam. Das Beispiel<br />

junger Männer türkischer Herkunft 1<br />

Nikola Tietze<br />

Nach Paul Ricœur beginnt Säkularisierung dort, wo <strong>der</strong> Glaube einer Gemeinschaft<br />

als Alternative zwischen Ideologie <strong>und</strong> Utopie beschrieben werden kann<br />

(Ricœur 1976: 50). Damit erhält Religiosität in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne eine Doppelfunktion:<br />

Einerseits hat sie zum Ziel, die Regeln des sozialen Handelns zu<br />

legitimieren <strong>und</strong> zu erhalten. An<strong>der</strong>erseits wird Glauben zu einem Mittel, die<br />

bestehende soziale Ordnung zu überwinden bzw. eine neue vorzuschlagen.<br />

Institutionalisierte Religion, die sich über Erinnerung ihrer gr<strong>und</strong>legenden<br />

Elemente <strong>der</strong> eigenen Existenz <strong>und</strong> Kontinuität versichert, beinhaltet die<br />

ideologische Seite des Glaubens. "Die Ahnenreihe <strong>der</strong> Gläubigen" B die "lignée<br />

croyante" (Hervieu-Léger 1993) B steht für die Ordnung <strong>und</strong> ermöglicht dem<br />

Individuum Identität durch ein "Dazugehören". Die Spezifik religiöser Erinnerung<br />

ist jedoch ihre immanente Verknüpfung mit dem Glauben an eine<br />

"an<strong>der</strong>e", "bessere" Welt, worin die utopische Dimension je<strong>der</strong> individuellen<br />

Religiosität begründet ist (Ricœur 1976: 66). Indem Glauben ein Feld des "auch<br />

Möglichen" eröffnet, schafft sich das Subjekt neue Handlungsperspektiven.<br />

<strong>Religiöse</strong> Identifikation in <strong>der</strong> säkularisierten Mo<strong>der</strong>ne vollzieht sich also im<br />

Spannungsverhältnis zwischen Ideologie <strong>und</strong> Utopie <strong>und</strong> wird damit zu einem<br />

Raum <strong>der</strong> Individualisierung. Das Individuum stellt die konstituierenden<br />

Elemente <strong>der</strong> Religion B Ethik, Gemeinschaft, Kultur <strong>und</strong> Emotion B in einer ihm<br />

eigenen subjektiven Logik zusammen <strong>und</strong> artikuliert so in komplexer Form die<br />

ideologische <strong>und</strong> utopische Dimension des Glaubens.<br />

Diese theoretischen Überlegungen sollen im folgenden am Beispiel <strong>der</strong> muslimischen<br />

Religiositätsformen junger Männer türkischer Herkunft in Deutschland<br />

aufgezeigt werden. Die Hypothese ist, daß vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Erfahrungen die Identifikation mit dem Islam für diese soziale<br />

Gruppe eine individuelle Wahl geworden ist. Damit wird <strong>der</strong> Glaube in eine<br />

Alternative zwischen Ideologie <strong>und</strong> Utopie gestellt. Muslimische Religiosität ist<br />

also als ein Subjektivierungsmodus zu verstehen, für den die Verknüpfung von<br />

ideologischen <strong>und</strong> utopischen, <strong>aus</strong> <strong>der</strong> religiösen Tradition erarbeiteten<br />

Elementen bezeichnend ist. Indem das Individuum sich soziale Erfahrungen<br />

aneignet (Dubet 1994) <strong>und</strong> ihnen durch den subjektiven Bezug auf den Islam<br />

einen Sinn gibt, wird es ihm möglich, sich als ein "Selbst" gegenüber <strong>der</strong> Familie<br />

<strong>und</strong> innerhalb des gesellschaftlichen Raums zu konstituieren. <strong>Religiöse</strong><br />

Identifikation ist daher niemals stabil, son<strong>der</strong>n besitzt einen mobilen Charakter.<br />

In diesem subjektiven Prozeß driften zwangsläufig die ethischen, kommunitären,<br />

kulturellen <strong>und</strong> emotionalen Komponenten des Islam <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>, die<br />

traditionell wie in je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Religion auf eine spezifische Art <strong>und</strong> Weise

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