Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Heidi Armbruster<br />
begegnet ist. Ich möchte eine Suryoyo-Sicht auf Geschichte anführen, auch weil<br />
sie die bereits erwähnte Dualität des Ortssinns von "hier" <strong>und</strong> "dort" deutlich<br />
macht. So ist das im "Hier" leben <strong>und</strong> das "Dort" erinnern eine kulturelle Praxis,<br />
die von diesem Ortssinn handelt.<br />
Erinnerung <strong>und</strong> Gedächtnis sind konstitutive Aspekte dessen, was wir soziale<br />
Identität nennen. Der Blick in die Vergangenheit, ob individuell o<strong>der</strong> kollektiv,<br />
stellt die Gegenwart in einen Sinnzusammenhang von Kontinuität o<strong>der</strong> Gewordenheit.<br />
Die Möglichkeit, sich in einer spezifischen Gegenwart zu verorten, ist<br />
abhängig von <strong>der</strong> Möglichkeit, diese Gegenwart <strong>aus</strong> einem davor Gewesenen<br />
abzuleiten. In diesem Sinne sind Gedächtnisarbeit <strong>und</strong> das Entwerfen von<br />
Identität konstitutiv miteinan<strong>der</strong> verwoben.<br />
Ich nehme an, <strong>und</strong> die Suryoye haben diese Annahme für mich bestätigt, daß<br />
die Beziehung zwischen Gedächtnis <strong>und</strong> Identität eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung für<br />
diasporische Gemeinschaften gewinnt. Erinnerung kann oft das einzige sein, was<br />
bleibt, nachdem Menschen ihre Heimat verlassen haben <strong>und</strong> an einem Ort<br />
weiterleben, <strong>der</strong> keinerlei direkte Reminiszenzen an die Vergangenheit mehr<br />
anbietet. In diesem Sinne können Gedächtnispraktiken eine Art Gr<strong>und</strong>lage für<br />
das Überleben <strong>und</strong> die Kohäsion <strong>der</strong> Gruppe sein. Sie können aber auch ihre<br />
Überzeugungskraft verlieren, wenn sie nicht mehr in das gegenwärtige Leben<br />
integriert werden können.<br />
Die Autorität <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
In <strong>der</strong> Gemeinschaft Syrisch-Orthodoxer Christen besitzt die Vergangenheit eine<br />
beson<strong>der</strong>e Autorität. Unter Suryoye in Deutschland nahm ich zunächst an, daß<br />
die vielfachen Bezüge zur Vergangenheit mit <strong>der</strong> befremdenden Erfahrung von<br />
Emigration zusammenhängen. Viele Emigranten bezogen sich in unseren<br />
Gesprächen auf die "Heimat" o<strong>der</strong> auf "früher". Dasselbe war allerdings in eben<br />
jener Heimat selbst anzutreffen. Auch in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> sprachen Suryoye oft über<br />
früher, über die Zeiten, als noch "alle" da waren <strong>und</strong> niemand <strong>der</strong>art<br />
abgeschnitten von Familie <strong>und</strong> Gemeinschaft lebte. Aber auch abgesehen von<br />
biographischen Erinnerungen präsentierten sich die Suryoye sehr nachdrücklich<br />
als historisches Volk, das es vermocht hatte, schon sehr lange <strong>und</strong> über alle<br />
Wi<strong>der</strong>stände hinweg zu existieren. Die Vergangenheit stellte sich dar als reiche<br />
Quelle von Wissen (yolufo), Glauben (haymonutho), Sitten (adat) <strong>und</strong> Menschen<br />
(noshe), <strong>aus</strong> <strong>der</strong> sich nachfolgende Generationen entwickelten <strong>und</strong> weitergaben,<br />
was sie empfangen hatten. Diese an kulturellen Schöpfungen reiche<br />
Vergangenheit war oft zeitlich unspezifiziert, sie war meqim, früher, o<strong>der</strong> meqim<br />
meqim, noch früher, <strong>und</strong> viele Erzähler definierten diese Epochen mehr über<br />
Ereignisse <strong>und</strong> Zustände als über kalendarische Zeitrahmen. Vor allem im Tur<br />
Abdin war deutlich, daß jene Objekte, die Jan Assmann "feste Objektivationen"