Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Aleviten in Deutschland<br />
integrieren, aber nicht assimilieren wollen. Das Modell Integration "ja", aber<br />
Assimilation "nein" mag als theoretisches Konstrukt zwar pl<strong>aus</strong>ibel klingen,<br />
sagt aber nichts darüber <strong>aus</strong>, wie solch ein Modell konkret <strong>aus</strong>sehen soll. Schon<br />
gar nicht klärt es die Frage danach, wie das zukünftige Zusammenleben mit allen<br />
an<strong>der</strong>en Bevölkerungsgruppen in Europa gestaltet werden soll, vor allem nicht<br />
die Gr<strong>und</strong>frage, auf welcher anthropologischen Gr<strong>und</strong>lage das Verhältnis<br />
definiert werden soll: Soll das Individuum o<strong>der</strong> das Kollektiv das Subjekt<br />
darstellen?<br />
Auf die <strong>Türkei</strong> bezogen verlangt ein Teil <strong>der</strong> Aleviten, daß sich <strong>der</strong> Staat<br />
völlig <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Finanzierung <strong>und</strong> Gestaltung <strong>der</strong> religiösen Angelegenheiten<br />
her<strong>aus</strong>zieht, in Deutschland dagegen wird <strong>der</strong> Staat explizit aufgefor<strong>der</strong>t, die<br />
Aleviten materiell zu för<strong>der</strong>n. Welches Verhältnis will das Alevitum zum Staat<br />
einnehmen, welche Vorstellung von Säkularismus hat es in bezug auf die<br />
europäischen Gesellschaften bzw. Staaten?<br />
Ein weiterer zu klären<strong>der</strong> Gesichtspunkt betrifft die Kriterien <strong>der</strong> Zugehörigkeit<br />
in stärker ethnisch-religiös durchmischten Gesellschaften. Traditionell wird<br />
die Zugehörigkeit zum Alevitum über die Abstammung definiert. Soll das so<br />
weiterbestehen? "Im Gegensatz zum Orden <strong>der</strong> BektaÕiya, dem je<strong>der</strong> beitreten<br />
kann, wird die Zugehörigkeit zum Alevilik nur durch Geburt weitergegeben.<br />
Strenggläubige Aleviten betrachten auch nur die Heirat mit Aleviten als erlaubt<br />
(Karakasoglu 1996: 41). Welche Folgen hat das für bikulturelle Partnerschaften<br />
<strong>und</strong> Familien? Werden diese Kriterien durch die Migrationsgesellschaft nicht ad<br />
absurdum geführt? Weiter bliebe zu fragen, welche Kriterien das Alevitum<br />
anstelle dieser Kriterien zu setzen vermag, ohne seine Identität einzubüßen.<br />
Ähnliches gilt für die Leitung von Gemeinden. Die Gleichstellung von Mann<br />
<strong>und</strong> Frau endet auch bei den Aleviten an <strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> religiösen Zeremonien.<br />
Das Verständnis von Gleichberechtigung ist aber im Einwan<strong>der</strong>ungsland an<strong>der</strong>s<br />
als im Herkunftsland <strong>und</strong> im bisherigen alevitischen Verständnis. Sie ist<br />
allumfassen<strong>der</strong> <strong>und</strong> radikaler in <strong>der</strong> Infragestellung von geschlechtsspezifischen<br />
Rollen. Wird es in Zukunft neben den Dedes auch Nenes geben, die die Zeremonien<br />
leiten?<br />
Auch die allumfassende Funktion des Gottesdienstes wird einer strengen<br />
Bestandsprobe unterzogen werden.<br />
"Der Ayin-i cem als zentrale religiöse <strong>und</strong> kulturelle Vermittlungsinstanz<br />
mit festen Regeln des Ablaufs <strong>und</strong> Aufgabenverteilung für<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gemeinde hat (...) nicht nur die Bedeutung eines<br />
Gottesdienstes, son<strong>der</strong>n ist zugleich Schule <strong>und</strong> Gericht <strong>der</strong> Gemeinde."<br />
(KarakaÕo—lu 1996: 43).<br />
Wie soll das Verhältnis <strong>der</strong> Gemeinde zum übergeordneten Gemeinwesen, dem<br />
Staat, <strong>aus</strong>sehen, aber auch zu den stark kanonisierten <strong>und</strong> institutionalisierten<br />
Amtskirchen?<br />
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