Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Taner Akçam<br />
erlebt diesen zweiten Nationalisierungsprozeß auf zwei unterschiedlichen Ebenen.<br />
Auf <strong>der</strong> ersten trennt sich die religiöse Identität von <strong>der</strong> ethnischen. Auf <strong>der</strong> zweiten<br />
spielt sich die Nationalisierung auf einer völkischen Gr<strong>und</strong>lage ab, in Form einer<br />
Differenzierung zwischen Türken <strong>und</strong> Kurden. Mo<strong>der</strong>nisierung kann auch<br />
verstanden werden als Verdrängung <strong>der</strong> Religion <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft. Religion<br />
wird als kulturelle Eigenschaft begriffen <strong>und</strong> auf die Ebene von Sinnbil<strong>der</strong>n<br />
gedrängt. Genau dies erleben die Türken heute. Wie weiter oben schon dargestellt,<br />
geriet die Mo<strong>der</strong>nisierung in ihrer Anfangsphase in Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong><br />
Religion, <strong>der</strong> Hauptgr<strong>und</strong> dafür, daß dieser Prozeß beson<strong>der</strong>s schwierig <strong>und</strong><br />
schmerzvoll vonstatten geht.<br />
Anfangs ging man zwar mit <strong>der</strong> Religion sehr vorsichtig um <strong>und</strong> wollte die<br />
Verän<strong>der</strong>ung möglichst auf den Staatsapparat beschränken, mußte aber bald<br />
einsehen, daß das nicht <strong>aus</strong>reichte. Vor allem <strong>der</strong> junge türkische Staat bevorzugte<br />
die Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>und</strong> den Bruch mit den islamischen Traditionen. Dennoch<br />
konnte die Religion ihre Rolle als einende Überidentität <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> zu<br />
großen Teilen auch im Staatswesen behaupten <strong>und</strong> weiterführen. Den Grün<strong>der</strong>n des<br />
jungen türkischen Staates war die vereinende <strong>und</strong> verbindende Kraft <strong>der</strong> Religion<br />
sehr wohl bekannt, so daß sie trotz allen laizistischen Anscheins die Religion eine<br />
tragende Säule <strong>der</strong> Türkischen Republik blieb <strong>und</strong> ihre Rolle als die alle gesellschaftlichen<br />
Gruppen einende Überidentität erhalten konnte.<br />
Seit den Gründungsjahren <strong>der</strong> Republik ist das Türkentum niemals in ethnischkultureller<br />
Weise definiert worden. Statt dessen wurde, auch aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Existenz<br />
des kurdischen Volkes, versucht, die islamische Identität <strong>und</strong> das türkische Wesen<br />
als ein <strong>und</strong> dasselbe darzustellen <strong>und</strong> zu definieren. Diese Ideologie <strong>der</strong> "türkischislamischen<br />
Synthese" wurde zeitweilig von offizieller Seite offen zur Benennung<br />
<strong>der</strong> Identität vertreten. Dies zeigte sich vor allem in <strong>der</strong> gegenüber den nichtmuslimischen<br />
Völkern Anatoliens verfolgten Politik. Das bekannteste Beispiel<br />
hierfür ist <strong>der</strong> Volks<strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>ch mit Griechenland, bei dem nicht die ethnische,<br />
son<strong>der</strong>n die religiöse Identität zugr<strong>und</strong>e gelegt wurde.<br />
Aus den genannten Gründen läßt sich feststellen, daß die erste Nationalisierungswelle,<br />
die mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Türkischen Republik an einen Wendepunkt<br />
gekommen war, nicht in <strong>der</strong> Lage war, die Trennung des Staates von <strong>der</strong> Religion<br />
wirklich zu vollenden.<br />
Zur Zeit befinden sich die Türken in einem Prozeß, in dessen Rahmen sie die<br />
von ihnen als Überidentität anerkannte religiöse Identität abzulegen versuchen <strong>und</strong><br />
dabei sind, sie zugunsten von Subidentiäten aufzulösen. Die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
zwischen Aleviten <strong>und</strong> Sunniten o<strong>der</strong> die zwischen Laizismus-Befürwortern <strong>und</strong><br />
Gegnern zeugen davon. Ich vertrete die Ansicht, daß die Religion ihre Eigenschaft<br />
als einende Überidentität langsam verlieren wird. Die aktuelle Entwicklung in <strong>der</strong><br />
<strong>Türkei</strong>, die vornehmlich vom Westen als bedrohlicher Aufstieg des türkischen<br />
F<strong>und</strong>amentalismus bezeichnet wird, stellt eigentlich den Verlust dieser Eigenschaft<br />
<strong>der</strong> Religion als Superidentität <strong>und</strong> in gewisser Weise den Rückzug <strong>der</strong> Religion