Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Individualisierung durch den Islam<br />
Muslim, weil er nicht mehr "Türke" sein will o<strong>der</strong> kann, trotzdem aber ihr Sohn<br />
bleiben möchte.<br />
Die Beispiele <strong>der</strong> drei Männer deuten drei verschiedene Formen muslimischer<br />
Religiosität an: einen "kulturalisierten", einen "emotionalisierten", auf dem<br />
Glauben beruhenden <strong>und</strong> einen "ethisierten" Islam. Trotz ihrer Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit<br />
besitzen alle drei Ausprägungen die subjektive Funktion für das<br />
Individuum, sich von <strong>der</strong> Familie zu emanzipieren, ohne mit ihr vollständig zu<br />
brechen. Indem ideologische, ordnungssetzende Elemente <strong>der</strong> Religion o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
religiösen Kultur aufgegriffen werden, bleibt die Verbindung zur Herkunftswelt<br />
erhalten. Die Tatsache, daß es sich hierbei um eine Auswahl handelt <strong>und</strong> nicht<br />
um eine ganzheitliche Verinnerlichung <strong>der</strong> Tradition, gibt den Religiositätsformen<br />
jedoch ihre utopische Dimension. Die Identifikation mit dem<br />
Islam öffnet den Horizont für etwas, das subjektiv "auch möglich" ist, das an<strong>der</strong>s<br />
ist, weil es über die gegebene Ordnung hin<strong>aus</strong>geht. In dieser Hinsicht ist<br />
muslimische Religiosität unter jungen Männern <strong>der</strong> zweiten Generation<br />
türkischer Einwan<strong>der</strong>er keine Retraditionalisierung, son<strong>der</strong>n Ausdruck für<br />
individuelle Mo<strong>der</strong>nisierung. In <strong>der</strong> unorthodoxen, selbst erarbeiteten Praxis <strong>der</strong><br />
Religion verwirklichen diese Muslime einen Teil ihres Ichs, das die Erinnerung<br />
an seine Herkunft nicht aufgeben will o<strong>der</strong> kann. Zwischen Bruch <strong>und</strong> religiös<br />
konstruiertem Dialog wird <strong>der</strong> Islam zu einer Ressource für die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> Familie. In diesem Prozeß wandelt sich die religiöse<br />
Praxis, die nun einen Glauben in einem komplexen Verhältnis von Ideologie <strong>und</strong><br />
Utopie zum Ausdruck bringt.<br />
Subjekt <strong>und</strong> Akteur in <strong>der</strong> b<strong>und</strong>esrepublikanischen Gesellschaft<br />
Ästhetische Kriterien für das "Schönsein" <strong>und</strong> "Jungsein", das dar<strong>aus</strong> folgende<br />
Freizeitverhalten <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wunsch nach sozialer Anerkennung unter den Söhnen<br />
türkischer Immigranten sind so wenig türkisch o<strong>der</strong> deutsch, wie sie japanisch<br />
o<strong>der</strong> amerikanisch sind. Vorstellungen in diesen Bereichen werden im<br />
allgemeinen in ähnlicher Weise von Jugendlichen deutscher <strong>und</strong> türkischer<br />
Herkunft <strong>aus</strong> vergleichbaren sozialen Milieus vertreten. Das spezifische Problem<br />
eines jungen Mannes türkischer Herkunft in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik ist aber, daß er<br />
als "türkisch", als "an<strong>der</strong>s" identifiziert wird, obwohl sein Freizeit- <strong>und</strong><br />
Konsumverhalten, Auffassungen über berufliche Karriere <strong>und</strong> Lebensstandard<br />
das Ergebnis <strong>der</strong> Erfahrungen in <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft sind. Das Leben soll<br />
nicht <strong>der</strong> Arbeit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Familiengründung geopfert werden, wie es die Eltern<br />
getan haben. Man will Geld verdienen, um konsumieren <strong>und</strong> genießen zu<br />
können, <strong>und</strong> zwar hic et nunc. Die Realisierung <strong>der</strong> Wünsche <strong>und</strong> Ideale wird<br />
jedoch permanent mit Diskriminierungserfahrungen konfrontiert, die sich in den<br />
Augen meiner Gesprächspartner in den meisten Fällen auf eine ganz implizite<br />
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