Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Einleitung<br />
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gingen freilich damals davon <strong>aus</strong>, "daß Staat <strong>und</strong> Kirche es mit dem gleichen Volk zu<br />
tun haben" würden (Erler 1965, S.101; vgl. Jonker 1997). Das nationale Selbstverständnis<br />
war christlich, verteilt auf katholische <strong>und</strong> lutheranische Einflußsphären.<br />
Infolge dieser Gesetzeslage konnten nicht-christliche Religionen bislang nur schwer<br />
einen institutionellen Platz in <strong>der</strong> Gesellschaft einnehmen. Nach dem nationalen<br />
Selbstverständnis konnten nicht-christliche Religionen nicht ohne weiteres mit<br />
gesellschaftlichen Aufgaben betraut werden, <strong>und</strong> durch diesen Ausschluß <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />
gesellschaftlichen Sphäre war <strong>der</strong> Kommunikation mit ihnen Grenzen gesetzt.<br />
Die nicht-christlichen Religionsgemeinschaften, die <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> nach<br />
Deutschland kamen, Muslime, Aleviten, Yeziden <strong>und</strong> Baha6i, aber auch die<br />
orientalischen Kirchen, die we<strong>der</strong> katholisch noch lutheranisch waren, son<strong>der</strong>n zum<br />
Teil Glaubensrichtungen vertraten, die sich bereits zu Anfang <strong>der</strong> Kirchengeschichte<br />
<strong>aus</strong> dem Hauptstrom des orthodoxen Glaubens her<strong>aus</strong>gelöst hatten - sie alle wurden<br />
auf den Status eines eingetragenen Vereins <strong>und</strong> damit auf die Privatisierung verwiesen.<br />
Für diejenigen, die eine Geschichte <strong>der</strong> Verfolgung o<strong>der</strong> Unterdrückung, staatlicher<br />
Kontrolle o<strong>der</strong> Ächtung hinter sich hatten, bildete die Privatisierung ihrer Religion in<br />
Deutschland zuallererst eine Möglichkeit, um sich von neuem <strong>und</strong> nun ohne<br />
Außenkontrolle auf die eigenen Werte <strong>und</strong> Glaubensinhalte zu besinnen, eine religiöse<br />
Organisation aufzubauen, die diese Werte wi<strong>der</strong>spiegelte, <strong>und</strong> sich "ein Dorf", wie<br />
Georges Tamer es <strong>aus</strong>drückt, inmitten <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft zu bauen. Unter den<br />
Muslimen führte die Privatisierung des Glaubens mitunter zu einer Differenzierung; es<br />
entstanden Glaubensgemeinschaften, <strong>der</strong>en Unterschiede auf die verschiedenen<br />
Formen des religiösen Wi<strong>der</strong>standes in <strong>der</strong> türkischen Republik zurückgehen.<br />
Die Schwierigkeit besteht heute in <strong>der</strong> Kommunikationslosigkeit zwischen den<br />
religiösen <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> deutschen Öffentlichkeit. Da die Kommunikationkanäle<br />
zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche gesetzlich festgelegt sind, gibt es für die<br />
privatisierten Glaubensgruppen keine Möglichkeit, an den Institutionen, die das<br />
gesellschaftliche <strong>und</strong> soziale Leben regeln, zu partizipieren. Die Folge dieses<br />
Ausschlusses ist, daß oftmals Fragen <strong>der</strong> <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong> in <strong>der</strong> Öffentlichkeit behandelt<br />
werden, ohne daß diese ihre Stimme einbringen können. Die türkischen Christen<br />
erleben, daß sie von <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft nicht als Christen, son<strong>der</strong>n p<strong>aus</strong>chal als<br />
"Muslime" wahrgenommen werden, weil die Gleichsetzung "Türken = Muslime" im<br />
öffentlichen Diskurs allgemein Gültigkeit hat (Georges Tamer in diesem Band).<br />
Türkische Muslime machen indes die Erfahrung, daß ihnen <strong>der</strong> Terror, <strong>der</strong> irgendwo in<br />
<strong>der</strong> Welt im Namen des Islam begangen wird, zugeschrieben wird, ohne daß zwischen<br />
dem Terrorismus <strong>und</strong> ihren religiösen <strong>und</strong> kulturellen Bezügen unterschieden wird<br />
(Yasemin KarakaÕo—lu-Ayd9n in diesem Band).<br />
<strong>Kern</strong> <strong>und</strong> <strong>Rand</strong> in <strong>der</strong> religiösen Binnenperspektive<br />
Was religiöse von an<strong>der</strong>en <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong> unterscheidet, ist die interne Organisation um<br />
eine charismatische Mitte im Innern <strong>der</strong> Gruppe. Das Konzept "<strong>Kern</strong> <strong>und</strong> <strong>Rand</strong>"<br />
bezieht sich auf diese religiöse Binnenperspektive (Zablocki 1980, 1993 <strong>und</strong> 1996).