Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Einleitung<br />
9<br />
Osmanischen Reich. Alle blicken auf eine lange Erfahrung zurück, eine Existenz am<br />
<strong>Rand</strong>e <strong>der</strong> Gesellschaft zu führen. Diese Erfahrung dient den heutigen Gemeinden<br />
mitunter als Gr<strong>und</strong>lage, um sich in den neuen Umständen zurechtzufinden.<br />
In diesem Buch sollen zuerst die Aleviten, die Yeziden, die Baha6i sowie zwei<br />
Kirchen, die Rum- <strong>und</strong> die Syrisch-Orthodoxe, vorgestellt werden. Ihre Erfahrungen<br />
mit <strong>der</strong> <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong>existenz sind durch<strong>aus</strong> unterschiedlich <strong>und</strong> wurden nicht nur von<br />
<strong>der</strong> Definitionsmacht des Osmanischen <strong>und</strong> später türkischen Gesetzgebers, son<strong>der</strong>n<br />
auch von den eigenen Fähigkeiten bestimmt, die Grenzen zu verlagern <strong>und</strong> sich den<br />
Umständen anzupassen. Die Rum- <strong>und</strong> die Syrisch-Orthodoxen, um nur dieses<br />
Beispiel aufzugreifen, blicken beide auf nunmehr 1300 Jahre nachbarschaftlicher<br />
Beziehungen mit Muslimen zurück. Während diese Erfahrung jedoch bei den Syrisch-<br />
Orthodoxen als Leidensgeschichte in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist <strong>und</strong><br />
das "Standhalten" dieser Gläubigen unlösbar mit dem Begriff des "Leidens" verb<strong>und</strong>en<br />
ist, betrachteten die Rum-Orthodoxen Muslime als ihre Ansprechspartner <strong>und</strong> schlugen<br />
theologisch Brüken zwischen Bibel <strong>und</strong> Koran (vgl. Georges Tamer <strong>und</strong> Heidi<br />
Armbruster). Die Frage stellt sich, inwieweit diese unterschiedliche Wahrnehmung <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> entsprechende Umgang mit <strong>der</strong> muslimischen Außenwelt von <strong>der</strong> theologischen<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>der</strong> frühen Kirche über Fragen <strong>der</strong> Gottesgestalt (Dreieinigkeit<br />
versus Monophysiten) geprägt worden ist.<br />
Aleviten bildeten im Laufe <strong>der</strong> Jahrh<strong>und</strong>erte Institutionen her<strong>aus</strong>, mit <strong>der</strong>en Hilfe<br />
sie sich sozial unauffällig machen (takkiye o<strong>der</strong> die Verneinung des Glaubens), mit den<br />
unterschiedlichsten Partner kooperieren <strong>und</strong> Netzwerke für den Notfall bilden konnten.<br />
Die alevitischen Institutionen <strong>der</strong> Wegbru<strong>der</strong>schaft (müsahiplik) <strong>und</strong> <strong>der</strong> Patenschaft<br />
(kirve) boten mitunter Möglichkeiten, Fre<strong>und</strong>schaftsbeziehungen mit Nicht-Aleviten<br />
(Christen <strong>und</strong> Yeziden) zu knüpfen - eine kulturelle Ressource, auf die in Deutschland<br />
zurückgegriffen wird, um Kontakte zur deutschen Mehrheitsgesellschaft herzustellen<br />
(vgl. Dursun Tan).<br />
Die yezidische Institution <strong>der</strong> endogamen Verwandschaftsbeziehungen (bavik)<br />
weist in eine ganz an<strong>der</strong>e Richtung. Heute überlegen die Yeziden als "<strong>aus</strong>erwähltes<br />
Volk", ob sie mit an<strong>der</strong>en religiösen Gruppen, die sich ebenfalls als "<strong>aus</strong>erwählt"<br />
betrachten, Kontakt aufnehmen sollten (vgl. Banu Yalkut-Bred<strong>der</strong>mann). Die Baha6i<br />
schließlich wenden sich an alle Nicht-Baha6i mit dem Vorschlag, zu einem nichtnational<br />
<strong>und</strong> nicht-sprachlich definierten "Weltbürgertum" überzutreten. Dies scheint<br />
indes vor allem für an<strong>der</strong>e religiöse <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong> attraktiv zu sein (vgl. Aliye Yegane<br />
Arani).<br />
Zu den "neuen" <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong> werden die orthodoxen islamischen Glaubensgemeinschaften<br />
gezählt, die sich in diesem Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>der</strong> Definition des Islam in<br />
einem türkischen nationalstaatlichen Rahmen verweigerten. Zu ihnen gehören die<br />
pietistisch-legalistischen Glaubensgemeinschaften, die auf Said Nursi o<strong>der</strong> Süleyman<br />
Hilmi Tunahan zurückgehen, ebenso wie die religiöse Protestbewegung, die sich in<br />
den neunziger Jahren mit Hilfe <strong>der</strong> parlamentarischen Refah-Partei für kurze Zeit<br />
Zugang zur türkischen Politik verschaffen konnte. In <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> ist <strong>der</strong> Ort dieser<br />
religiösen Gruppen seit den achtziger Jahren ständig vom <strong>Rand</strong> in Richtung<br />
gesellschaftliche Öffentlichkeit gewan<strong>der</strong>t. Unter dem Druck <strong>der</strong> Öffentlichkeit hat <strong>der</strong>