Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Der "Fall Ludin" in <strong>der</strong> politischen <strong>und</strong> Medienöffentlichkeit<br />
Der Überblick, 3, 1998, S. 1). In <strong>der</strong> Praxis heißt dies, daß es in NRW im<br />
Ermessensspielraum des jeweiligen Schulleiters bzw. <strong>der</strong> jeweiligen Schulleiterin<br />
steht, das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin zu tolerieren o<strong>der</strong> auch<br />
nicht. Diese Regelung führt zu einer uneinheitlichen Praxis mit wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />
Signalen an die Gesamtgesellschaft. So ist es etwa einer Konrektorin einer<br />
Schule in Wuppertal <strong>aus</strong>drücklich erlaubt, <strong>und</strong> es ist <strong>aus</strong> integrationstechnischen<br />
Gründen sogar erwünscht, daß sie ihr Kopftuch in <strong>der</strong> Schule trägt, während ihre<br />
Kollegin an einer benachbarten Schule ihr Kopftuch am Schultor auf Wunsch<br />
des Schulleiters abnehmen muß.<br />
Das Beispiel Kopftuch wirft zum einen die Frage auf, wie sichtbar an<strong>der</strong>e<br />
Religionen in <strong>der</strong> christlich geprägten säkularen B<strong>und</strong>esrepublik sein dürfen. Es<br />
geht darum, welches Verständnis von "Religionsfreiheit" eine multikulturelle<br />
<strong>und</strong> multireligiöse Gesellschaft, als die sich die B<strong>und</strong>esrepublik trotz einer überwiegend<br />
christlich-abendländischen Tradition heute präsentiert, entwickeln<br />
sollte. Der Fall Ludin hat als Präzedenzfall ohne Zweifel Relevanz für das<br />
zukünftige Verhältnis zwischen den bisher den "<strong>Rand</strong>" <strong>der</strong> Migrantengesellschaft<br />
kennzeichnenden "sichtbaren" Musliminnen <strong>und</strong> dem "<strong>Kern</strong>" <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft,<br />
also dem Staat bzw. <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft selbst. An ihm<br />
wird exemplarisch das Spannungsfeld deutlich, in dem sich auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />
Bildungsinstitutionen <strong>der</strong> universalistische Anspruch <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft<br />
<strong>und</strong> partikularistische Interessen von Angehörigen <strong>der</strong> neuen religiösen Min<strong>der</strong>heitsgesellschaft<br />
begegnen (vgl. Thomas 1998: 60). Die praxisrelevante Frage<br />
nach einem gesellschaftlich tragbaren Kompromiß zwischen diesen beiden<br />
Interessen kann zwischen den Beteiligten nicht gleichberechtigt verhandelt<br />
werden, da die Mehrheitsgesellschaft mittels gesellschaftlicher <strong>und</strong> politischer<br />
Organe die Definitionsmacht darüber hat, was universalistische Werte sind.<br />
Dabei bewegen sich beide Parteien, die Mehrheitsgesellschaft <strong>und</strong> die<br />
"sichtbaren" Musliminnen mit ihren gegensätzlichen For<strong>der</strong>ungen argumentativ<br />
im Rahmen des "mo<strong>der</strong>nen" gesellschaftlichen Diskurses <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik.<br />
Während die einen mit Rekurs auf die universelle Gültigkeit <strong>der</strong> Werte <strong>der</strong><br />
Aufklärung Assimilationsdruck auf die Zuwan<strong>der</strong>er <strong>aus</strong>üben, verweisen diese<br />
ihrerseits im Sinne ihrer partikularistischen Interessen auf das ebenfalls "mo<strong>der</strong>ne"<br />
Ideal des gesellschaftlichen Pluralismus. Schlägt das Pendel zugunsten<br />
des Assimilationsdrucks <strong>aus</strong>, so kann dies bei Angehörigen <strong>der</strong> <strong>Min<strong>der</strong>heiten</strong>gruppen<br />
zu Positionsverhärtungen führen. Ersten Reaktionen auf die politische<br />
Entscheidung im Fall Ludin von seiten weiterer potentiell "Betroffener", das<br />
heißt von jungen Akademikerinnen türkischer Herkunft, die <strong>aus</strong> persönlichen<br />
Gründen <strong>und</strong> auf eigenen Wunsch ein Kopftuch tragen, ist zu entnehmen, daß für<br />
sie die Abnahme des Kopftuches keine Alternative darstellt. 2 Ein Teil von ihnen<br />
gedenkt in <strong>der</strong> Hoffnung, daß die Entscheidung nur auf Baden-Württemberg<br />
begrenzt bleibt, ihren Weg als Lehramtskandidatinnen weiterzugehen, ein<br />
an<strong>der</strong>er Teil jedoch zieht den Rückzug in religiöse <strong>und</strong> ethnische Nischen, das<br />
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