Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Syrisch-Orthodoxe Christen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong><br />
Dach, sichtbar für den Feind, <strong>und</strong> als <strong>der</strong> Regenbogen vom Himmel kommt, wird<br />
seine Ermordung zum Symbol für Tod <strong>und</strong> Auferstehung.<br />
Ich möchte diese mythische Erinnerungsfigur des W<strong>und</strong>ers keineswegs trivialisieren,<br />
son<strong>der</strong>n anzeigen, wie sehr eine bestimmte Geschichtserzählung von<br />
theologisierten Handlungen durchzogen ist. Die göttlichen Zeichen <strong>und</strong> W<strong>und</strong>er<br />
sind in sayfo-Erzählungen <strong>und</strong> in Schil<strong>der</strong>ungen muslimischer Bedrohung relativ<br />
häufige Ereignisse. Sie sind ebenfalls häufig in Heiligenlegenden, die eine<br />
signifikante Rolle in <strong>der</strong> oral history des christlichen Tur Abdin spielen. Sie sind<br />
wie ein Zeugnis dafür, daß Gott um irdisches Leid weiß <strong>und</strong> in allen<br />
menschlichen Begegnungen dritte Partei ist. Er ist ewiger Zeuge <strong>und</strong> gerechter<br />
Richter zugleich. Die sayfo-Erzählung, in <strong>der</strong> verübte Gr<strong>aus</strong>amkeiten oft sehr<br />
detailliert geschil<strong>der</strong>t werden, ist eine Erzählung, die eine Verbindung herstellt<br />
zwischen Verlust <strong>und</strong> Schmerz, <strong>der</strong> Kommunikation mit Gott <strong>und</strong> <strong>der</strong> Zukunft<br />
als göttlich geordnetem Zustand von Erlösung <strong>und</strong> Gerechtigkeit. 17 Die Erfahrung<br />
von Leid <strong>und</strong> Schmerz als kontinuierliches Inventar von Suryoyo-Geschichte<br />
ist in seiner theologischen Kommentierung zweifach bedeutend. Zum<br />
einen als Ausdruck von Standhaftigkeit gegenüber feindseligen An<strong>der</strong>en. Gegen<br />
diese von Suryoye oft als Christenfeindlichkeit betonte Diskriminierung ("nur<br />
weil wir Christen waren, haben sie uns verfolgt") ist das Standhalten ein Treuebekenntnis<br />
zu Gott.<br />
Zum an<strong>der</strong>en - eine Version, die die bis heute Standhaften, die den Tur Abdin<br />
nicht verlassen haben, auch stärker betonten - ist irdisches Leben schwer <strong>und</strong><br />
leidvoll, weil Gottes Heilsplan es so bestimmte, nachdem die ersten Menschen<br />
den Vertrag mit ihm gebrochen hatten. Suryoye, die sich <strong>der</strong> theologisierten<br />
Erzählung ihrer Geschichte stark verb<strong>und</strong>en fühlten, spekulierten denn auch, ob<br />
sayfo nicht im Gr<strong>und</strong>e eine Strafe für ihre Sünden war. Hier steht dem Willen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Autorität Gottes die Schuld <strong>und</strong> Sünde des Menschen ge-genüber, <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Lauf <strong>der</strong> Geschichte handelt letztlich von dieser Beziehung (o<strong>der</strong> dem<br />
Scheitern <strong>der</strong>selben). Lei<strong>der</strong>fahrung, Mühe <strong>und</strong> Entbehrung können so einen<br />
durch<strong>aus</strong> positiven moralischen Wert besitzen, da sie nicht nur Reife <strong>und</strong><br />
Standhaftigkeit, son<strong>der</strong>n auch göttliches Wohlwollen erzeugen. 18 Die<br />
Erzählungen über sayfo, Verfolgungen <strong>und</strong> Entbehrung sind geschichtsf<strong>und</strong>ierend,<br />
nicht im Sinne einer exakten Chronologie, son<strong>der</strong>n im Sinne des Entwurfs<br />
eines kollektiven Selbstbildes. Die historischen Erfahrungen in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> sind<br />
durchwoben von christlicher memoria, in <strong>der</strong> Themen wie Leid, Entbehrung,<br />
Angst o<strong>der</strong> Tod beinahe zum Motor von Geschichte selbst werden.<br />
Eine bedrängte Gemeinschaft<br />
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