Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Nikola Tietze<br />
daß eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> eigenen sozialen Situation in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik<br />
über den Umweg <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> geschieht. In ein "Außerhalb" <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
gestellt, trotz <strong>der</strong> sozialen Zugehörigkeit, die sich <strong>aus</strong> dem alltäglichen<br />
Handeln erschließt, scheint dem Individuum, nur <strong>der</strong> politische Bezug auf die<br />
<strong>Türkei</strong> als Konfliktualisierungsmodus <strong>der</strong> eigenen Lage offenzustehen.<br />
An den drei Beispielen wird deutlich, daß Erinnerung "Dialog mit <strong>der</strong> Gesellschaft"<br />
(Namer 1994: 299-367) ist <strong>und</strong> gleichzeitig eine Verarbeitung des<br />
individuellen Herkunftsmilieus darstellt. Die Erinnerungsfiguren, die eine<br />
"lignée croyante" - in diesem Falle die islamische TraditionB dem Gläubigen zur<br />
Verfügung stellt, werden von dem Subjekt gemäß seiner individuellen Situation,<br />
seiner sozialen Lage <strong>und</strong> seinem Handlungskontext entsprechend <strong>aus</strong>gesucht<br />
(Halbwachs 1994). Traditionelle Elemente erhalten so im Hier <strong>und</strong> Jetzt ihre<br />
Funktion <strong>und</strong> wandeln ihre Bedeutung durch ihre neuartige Verknüpfung bzw.<br />
durch ihre Rolle in einem für die Mo<strong>der</strong>ne typischen Subjektivierungsprozeß.<br />
Die verschiedenen Erinnerungsprozesse, die die individuelle Identifikation mit<br />
dem Islam einleitet, verbinden auf <strong>der</strong> subjektiven Ebene die Emanzipation von<br />
<strong>der</strong> Familie <strong>und</strong> die Konstruktion eines "Selbst" in <strong>der</strong> Gesellschaft miteinan<strong>der</strong>.<br />
Individualisierung durch den Islam <strong>und</strong> Individualisierung des Islam<br />
Zusammenfassend läßt sich eine komplementäre Bewegung in bezug auf die<br />
muslimische Religiosität junger Männer feststellen: Es existiert eine Individualisierung<br />
durch den Islam <strong>und</strong> eine Individualisierung des Islam. Der erste<br />
Prozeß ist <strong>und</strong>enkbar ohne den zweiten. Ineinan<strong>der</strong> verschränkt implizieren<br />
wie<strong>der</strong>um beide eine Pluralisierung <strong>der</strong> Religiositätsformen. Vier Ausprägungen<br />
lassen sich auf einer heuristischen Ebene beschreiben: eine "kulturalisierte", eine<br />
"kommunitarisierte" o<strong>der</strong> "vergemeinschaftete", eine "ethisierte" <strong>und</strong> eine<br />
"emotionalisierte" Religiosität. Die "kulturalisierte" <strong>und</strong> die "kommunitarisierte"<br />
Form akzentuieren das Dazugehören. Der Glauben tritt in den Hintergr<strong>und</strong>, <strong>und</strong><br />
das Praktizieren des Islam ist geprägt von einem mechanischen Charakter. Wird<br />
die Zugehörigkeit zur "lignée croyante" <strong>der</strong> Muslime subjektiv in eine Kultur<br />
integriert, die man als "deutsche Turkizität" bezeichnen kann (Tietze 1997), so<br />
handelt es sich um eine "kulturalisierte" Religiosität. Die "kommunitarisierte"<br />
Form ist hingegen vornehmlich von dem Ziel geleitet, eine Gemeinschaft<br />
innerhalb einer Gesellschaft zu konstruieren. Der "vergemeinschaftende"<br />
Muslim wird zu einem Akteur in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik durch das Betonen seiner<br />
konfessionellen Zugehörigkeit, <strong>der</strong> "kulturalisierende" ordnet hingegen seine<br />
muslimische Religiosität an<strong>der</strong>en Handlungsprinzipien unter. Die religiöse<br />
Identifikation spielt nur eine implizite Rolle für das Agieren in <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
Die dritte <strong>und</strong> vierte Ausprägung <strong>der</strong> muslimischen Religion in <strong>der</strong> Diaspora B<br />
<strong>der</strong> "ethisierte" <strong>und</strong> <strong>der</strong> "emotionalisierte" Islam - akzentuieren die Dimension