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Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...

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Heidi Armbruster<br />

Die theologisierte Erzählung von Geschichte ist nicht die einzige, aber dennoch<br />

eine sehr dominante. 19 Sie war unter Suryoye im Tur Abdin über<strong>aus</strong> präsent <strong>und</strong><br />

Teil des Selbstbildes <strong>der</strong> Suryoye, die nach Europa <strong>aus</strong>wan<strong>der</strong>ten. Das kollektive<br />

Gedächtnis handelt von einem Volk, das sich inmitten einer Übermacht<br />

feindseliger An<strong>der</strong>er behauptete. Sich zu behaupten konnte jedoch bedeuten zu<br />

leiden, mit Diskriminierung <strong>und</strong> Willkür zu leben <strong>und</strong> vielleicht sogar zu<br />

sterben. Diese Erfahrungen waren Manifestationen des Überlebens als syrische<br />

Christen in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong>.<br />

Dieser Modus des Erinnerns scheint geprägt zu sein von einem spezifischen<br />

Bewußtsein des Lebens im Belagerungszustand. Dieses ist selbstbildformierend<br />

<strong>und</strong> fremdbildbestimmend zugleich, da, <strong>aus</strong> Suryoyo-Sicht, das eigene Christ-<br />

Sein die Intoleranz <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en zu Tage för<strong>der</strong>te. In religiöser Hinsicht hat das<br />

menschliche Verhältnis zu Gott eine übergeordnete Position: Gott leitet ein<br />

bedrängtes Selbst <strong>und</strong> favorisiert es zugleich, ein Motiv, das die W<strong>und</strong>er- <strong>und</strong><br />

Zeichenerzählungen bezeugen.<br />

Die Erzählungen über das äußere Bedrängtsein waren sehr gegenwärtig in <strong>der</strong><br />

<strong>Türkei</strong> <strong>und</strong> im Selbstverständnis vieler Suryoyo-Immigranten in Deutschland. Es<br />

war, als ob in <strong>der</strong> Erinnerung <strong>der</strong> äußeren Bedrohung kollektiver Existenz eben<br />

jene Existenz allererst ihre Bedeutung gewann. Erzählungen über das<br />

Bedrängtsein müssen wie<strong>der</strong>holt werden, um es im Gedächtnis zu bewahren, um<br />

Schuld <strong>aus</strong>zusprechen, aber auch um zu heilen, um das Kollektiv zu stärken, <strong>und</strong><br />

vielleicht auch, um das zu "vergessen", was nicht vom Bedrängtsein erzählt. Ich<br />

glaube, daß viele Suryoye auf ihre Emigration mit einer Empfindung von<br />

Bedrängtsein reagieren. Für viele bedeutet Leben in Europa Bedrohung <strong>und</strong> ein<br />

herannahendes Ende dessen, was sie einmal waren: ein moralisch verbindliches<br />

<strong>und</strong> verbindendes Kollektiv. Für sie hat dieses Kollektiv eine Krise <strong>der</strong><br />

Kontinuität erreicht. In Deutschland haben "fremde" Ideen <strong>und</strong> säkularisierte<br />

Moralvorstellungen einen belagernden <strong>und</strong> bedrängenden Effekt, <strong>der</strong> umso<br />

beunruhigen<strong>der</strong> geworden ist, da er nicht mehr am ethnisch An<strong>der</strong>en, son<strong>der</strong>n<br />

viel diffuser auch am Eigenen festzumachen ist: Viele Immigranten <strong>der</strong> ersten<br />

Generation glaubten den Verlust wahren Suryoyotums in ihren eigenen Kin<strong>der</strong>n<br />

zu erkennen. Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche wurden oft beschuldigt, ihre kollektive<br />

Geschichte zu "vergessen". Aussagen wie "die wissen gar nicht wer sie sind"<br />

o<strong>der</strong> "die wollen nicht wissen wer sie sind, sie interessieren sich nicht für unsere<br />

Geschichte" o<strong>der</strong> "sie lernen kein Aramäisch mehr, sie sprechen nur noch<br />

Deutsch", "sie kommen nicht mehr in die Kirche" waren Klagen über das<br />

Vergessen, aber auch moralische Schuldzuweisungen. Viele Eltern, Lehrer o<strong>der</strong><br />

Priester äußerten so ihre Sorgen über etwas, das sie als Störung ihrer eigenen<br />

Identität betrachteten. Abgesehen davon, daß diese Verhandlungen mit den<br />

"abtrünnigen" Kin<strong>der</strong>n auf die dialogische Natur kollektiver Erinnerung weisen,<br />

zeigt dies auch, daß das Verabschieden von Vergangenheit eine Bedrohung<br />

kollektiver Identität bedeuten kann. Während die Formen äußerer Bedrohung in

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