Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Nikola Tietze<br />
Art <strong>und</strong> Weise äußern. Alle befragten Personen können mindestens eine<br />
persönliche Erfahrung von "Auslän<strong>der</strong>feindlichkeit" berichten.<br />
"Wir sind enayi, das heißt die ewig Beschissenen." Dieses Zitat faßt die<br />
soziale Situation zusammen, in <strong>der</strong> sich viele meiner Gesprächspartner selber<br />
sehen. Osman versucht mittels seiner muslimischen Religiosität, dem Gefühl des<br />
"Beschissen-seins" entgegenzuwirken. Seinen Antrag auf die deutsche<br />
Staatsbürgerschaft haben die zuständigen Behörden <strong>aus</strong> für ihn unverständlichen,<br />
"ungerechten" Gründen abgelehnt. Im Bus meint er, von den Leuten "komisch"<br />
angesehen zu werden, weil er Türke ist, <strong>und</strong> seine Professoren an <strong>der</strong><br />
Fachhochschule hält er für <strong>aus</strong>län<strong>der</strong>feindlich. Dabei versteht Osman sich vor<br />
allem als Muslim, d. h. als Anhänger einer Weltreligion, die in ihrer universalen<br />
Eigenschaft dem Christentum gleichwertig <strong>und</strong> damit gleichberechtigt<br />
gegenübersteht. Ein "kommunitärer, vergemeinschaften<strong>der</strong>" Islam ermöglicht<br />
ihm die subjektive Aufwertung <strong>der</strong> eigenen Person, <strong>der</strong> überall ihre Differenz zu<br />
einer höher bewerteten Norm entgegengehalten wird. Indem Osman sein<br />
"An<strong>der</strong>ssein" zu einer religiösen Kategorie werden läßt, kann er in <strong>der</strong><br />
b<strong>und</strong>esdeutschen Gesellschaft als gleichberechtigter Bürger auftreten, <strong>und</strong> zwar<br />
trotz rechtlicher Unterschiede <strong>und</strong> sozialer Diskriminierung. In diesem<br />
Bewußtsein nimmt er an möglichst je<strong>der</strong> öffentlichen Versammlung in Wilhelmsburg<br />
teil. Ob es um Umweltschutz, Sicherheit auf den Straßen o<strong>der</strong><br />
Auslän<strong>der</strong>feindlichkeit geht, Osman meldet sich im Namen <strong>der</strong> muslimischen<br />
Bevölkerung zu Wort. Als engagiertes Mitglied von Milli GörüÕ handelt er dabei<br />
nicht nur als Bewohner des Stadtteils, son<strong>der</strong>n <strong>aus</strong> deutlich politischen<br />
Interessen. Mit seinem Engagement will er dazu beitragen, daß seine Organisation<br />
zum legitimen Vertreter <strong>der</strong> muslimischen Gemeinde in <strong>der</strong> kommunalen<br />
Öffentlichkeit wird. Angesichts <strong>der</strong> Konsequenzen, die das Auftreten von Milli<br />
GörüÕ für die lokale muslimische Bevölkerung, ihre Meinungsvielfalt <strong>und</strong><br />
religiöse Freiheit haben kann, dürfen Akteure wie Osman nicht unterschätzt o<strong>der</strong><br />
verharmlost werden. Im Gegenteil, nur wenn man sich mit ihren politischen <strong>und</strong><br />
theologischen Einstellungen <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>setzt <strong>und</strong> sie als einen Teil <strong>der</strong><br />
b<strong>und</strong>esdeutschen Realität akzeptiert, wird man dieser politisierten Form<br />
muslimischer Religiosität gerecht. Die Vereine, die in Deutschland das muslimische<br />
Leben auf institutioneller Ebene organisieren, sind nicht nur ein Erbe <strong>der</strong><br />
<strong>Türkei</strong>, son<strong>der</strong>n Produkte <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik. Das Beispiel von Osman zeigt es.<br />
Er, <strong>der</strong> als "Türke" bzw. "Auslän<strong>der</strong>" seinen Platz in <strong>der</strong> Öffentlichkeit nicht<br />
finden konnte, tritt durch seine religiöse Identifikation mit <strong>der</strong> Gesellschaft in<br />
einen Dialog.<br />
Özal ist ebenfalls Mitglied von Milli GörüÕ. Seine ethische Konzeption des<br />
Islam erlaubt ihm, die religiösen Dogmen zu rationalisieren <strong>und</strong> sie zu Orientierungskriterien<br />
im sozialen Leben zu machen. Die Opposition zwischen dem,<br />
was haram, <strong>und</strong> dem, was halal ist, organisiert sein Handeln in <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
Die Einteilung <strong>der</strong> Welt in eine "reine" <strong>und</strong> "unreine" ermöglicht dem jungen