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Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...

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Heidi Armbruster<br />

idealiter auch mit dem Ortswechsel einhergeht), wenn sie heiraten. Das neuaramäische<br />

Wort bayto geht auf das klassisch-aramäische Wort beth (H<strong>aus</strong>)<br />

zurück <strong>und</strong> lebt im Namen einer jeden Person weiter durch die Bezeichnung<br />

"Be-". Suryoye identifzieren sich <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e über ihre Zugehörigkeit zu einem<br />

bayto. Das heißt beispielweise fiktiv, daß Musa Be-David 3 zum "H<strong>aus</strong>" seines<br />

väterlichen Ahnen David gehört <strong>und</strong> Meryem Be-Sawme zum H<strong>aus</strong> des Sawme,<br />

ein Ort, <strong>der</strong> zugleich eine Verwandtschaftsgruppe ist. Dieser Ort kann tatsächlich<br />

ein Ort von vielen sein, da es heutzutage sehr wahrscheinlich ist, daß etwa eine<br />

Gruppe "Be-David" zwischen Tur Abdin, Gütersloh, Brüssel, Stockholm <strong>und</strong><br />

New Jersey lebt. Die Suryoyo-Bedeutung des bayto macht deutlich, daß eine<br />

Person immer "verortet" ist <strong>und</strong> daß dieser Ort nie lediglich ein physisches H<strong>aus</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n eine soziale Verbindung mit spezifisch An<strong>der</strong>en bedeutet. Eine Person<br />

ist kein autonomes Einzelwesen, son<strong>der</strong>n definiert über ihre Beziehungen zu<br />

an<strong>der</strong>en. Das heißt, das "H<strong>aus</strong>" existiert nicht an sich, son<strong>der</strong>n durch soziale<br />

Prozesse, die in ihm <strong>und</strong> <strong>aus</strong> ihm her<strong>aus</strong> stattfinden. In diesem Sinne sind die<br />

sozialen Beziehungen <strong>und</strong> Vernetzungen raum-formierend. Es ist wichtig,<br />

lokalisierendes <strong>und</strong> lokalisiertes Handeln als soziales im Auge zu behalten, da es<br />

nicht nur für das Beispiel des H<strong>aus</strong>es, son<strong>der</strong>n auch für das <strong>der</strong> Straße, des<br />

Viertels o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nation zutrifft (vgl. Pratt <strong>und</strong> Hanson 1994, 25; Massey 1992,<br />

10). Ob es um das kollektive "H<strong>aus</strong>" <strong>der</strong> Suryoye o<strong>der</strong> die auf völkischer<br />

Exklusivität beruhende Nation <strong>der</strong> Deutschen geht, beide kommen nur zur<br />

Entstehung über soziale Praxisformen.<br />

Was die Krise o<strong>der</strong> Instabilität des bayto (des H<strong>aus</strong>es) betrifft, die viele<br />

Suryoye-Immigranten in Berlin o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>swo in Deutschland empfinden, hängt<br />

in erster Linie mit spezifischen sozialen Beziehungen zusammen, die sie als<br />

"nicht mehr so wie früher" wahrnehmen. Dazu gehören regelmäßige gegenseitige<br />

Besuche, das Zusammenleben <strong>der</strong> Familie im selben H<strong>aus</strong>, das Verbleiben <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> bei den Eltern bis zur Verheiratung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Söhne o<strong>der</strong> eines Sohnes<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Schwiegertochter auch nach <strong>der</strong> Verheiratung o<strong>der</strong> etwa das soziale<br />

Vernetzen mit an<strong>der</strong>en als Nachbarschaft. Die relative Verunsicherung über das<br />

bayto als Instanz hängt mit <strong>der</strong> teilweisen Destabilisierung jener sozialen<br />

Verbindungen zusammen, die das H<strong>aus</strong> zur Entstehung bringen. Die Dynamik<br />

<strong>und</strong> potentielle Verän<strong>der</strong>barkeit sozialer Beziehungen <strong>und</strong> Zusammenhänge ist<br />

gerade das, was die Identität des bayto verän<strong>der</strong>t. Ich habe den Eindruck, daß die<br />

Verräumlichung von sozialer Stabilität bei den Suryoye vielfach ans "H<strong>aus</strong>"<br />

geknüpft ist <strong>und</strong> daß die Krise dieser Stabilität auch als eine Kise des H<strong>aus</strong>es<br />

gilt. Obwohl die Verbindung zwischen einem spezifischen Ort <strong>und</strong> einer Form<br />

<strong>der</strong> sozialen Zusammengehörigkeit in Erzählungen <strong>der</strong> Immigranten häufig für<br />

die Vergangenheit idealisiert wird, ist es doch so, daß sie ihre Verortung in <strong>der</strong><br />

<strong>Türkei</strong> realiter aufgegeben haben <strong>und</strong> das von ihnen manchmal nostalgisch<br />

beschworene Bild längst nicht mehr existiert. Auch dort ist das bayto nicht mehr<br />

"was es einmal war". Die verlassenen Häuser <strong>und</strong> Dörfer weisen nicht nur hin

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