Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Heidi Armbruster<br />
heit, entwe<strong>der</strong> über ein gewisses Expertentum o<strong>der</strong> über eine Geste bescheidener<br />
Ungelehrtheit. In dieser Form <strong>der</strong> Verortung in <strong>der</strong> Vergangenheit sind das<br />
<strong>Religiöse</strong> <strong>und</strong> das Historische beinahe unlösbar verb<strong>und</strong>en. Dies spiegelt eine<br />
dominante Perspektive im Tur Abdin <strong>und</strong> unter Immigranten <strong>der</strong> ersten<br />
Generation. Die sakrale Sprache Aramäisch, die kanonischen Schriften, die<br />
Feiertage <strong>und</strong> Fasttage des liturgischen Kalen<strong>der</strong>s, die Gebete <strong>und</strong> kirchlichen<br />
Riten offerieren Formen <strong>der</strong> kollektiven Teilhabe <strong>und</strong> bezeichnen ein theologisches<br />
Verständnis von Vergangenheit. Alle diese semiotischen Formen sind<br />
eingeb<strong>und</strong>en in Zyklen <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung <strong>und</strong> damit in eine Perpetuierung<br />
dessen "was schon immer so war". Als Ausdrucksformen <strong>der</strong> Beziehung mit dem<br />
Heiligen sind sie betont normativ <strong>und</strong> zeremoniell. Alles genau so "wie früher"<br />
zu machen im Bereich des Gebets, <strong>der</strong> Liturgie <strong>und</strong> <strong>der</strong> festlichen kirchlichen<br />
Rituale wurde mir oft als positive Einschätzung vermittelt. Es war wie ein<br />
Zeugnis von Authentizität <strong>und</strong> direkter Korrespondenz mit dem Milieu des<br />
Urchristentums im Nahen Osten. Die Wahrnehmung <strong>der</strong> Europäer bezieht sich<br />
häufig auf dieses Selbstbild. In den Augen vieler Suryoye weisen die westlichen<br />
Gesellschaften ihren moralischen Status vor allem dadurch <strong>aus</strong>, daß sie das<br />
"wahre" Christentum längst korrumpiert haben. In gewisser Hinsicht enthalten<br />
die Glaubenspraktiken genau das, was sie am Leben erhält: Dauerhaftigkeit <strong>und</strong><br />
eine gewisses Insistieren auf Unverän<strong>der</strong>barkeit. Dieses beson<strong>der</strong>e historische<br />
Bewußtsein wird artikuliert durch eine Art Imperativ, das Unverän<strong>der</strong>liche stets<br />
zu wie<strong>der</strong>holen <strong>und</strong>, wie säkularisierte Suryoye oft kritisieren, das zu<br />
unterbinden, was als ritual-verän<strong>der</strong>nd gilt.<br />
Kontinuität <strong>und</strong> Festhalten am tradierten Wissen sind evaluative Kategorien,<br />
<strong>und</strong> es ist anzunehmen, daß mit <strong>der</strong> minoritären Erfahrung im Tur Abdin eine<br />
gewisse Fähigkeit zu bestehen <strong>und</strong> sich zu erhalten beson<strong>der</strong>s wertvoll wurde.<br />
Der Rückblick auf die Vergangenheit birgt immer auch evaluative <strong>und</strong> moralische<br />
Dimensionen von Selbstvergewisserung. Wenn manche Suryoye die Emigration<br />
mit Aussagen wie "wir haben uns selbst vergessen" kommentierten, dann<br />
bezogen sie sich sowohl auf eine historische als auch moralistische Ebene. In<br />
diesem Sinne ließen Suryoyo-Erzählungen "Gedächtnis" immer auch als moralische<br />
Vision entstehen.<br />
Die Leidensgeschichte<br />
Die meisten Suryoye-Immigranten, die ich in Berlin kennenlernte, problematisierten<br />
die Zukunft ihres Volkes. Emigration, diasporische Zerstreuung <strong>und</strong><br />
die schwierigen politischen Realitäten <strong>der</strong> Südosttürkei waren für sie Elemente<br />
einer pessimistischen Prognose. Diese Perspektiven auf eine düstere Zukunft<br />
waren zugleich auch eine Art Kommentar zum kollektiven Gedächtnis <strong>und</strong> zu<br />
den "störenden" Elementen, die die diasporische Realität in ihm verursacht.