Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Sigrid Nökel<br />
Vergesellschaftung, zum, wie Ayla nahelegt, Kampf in <strong>der</strong> Gesellschaft, ist<br />
spärlich o<strong>der</strong> nicht sinnvoll, nicht systematisch. Sie bieten für das Leben draußen<br />
sozusagen kein geschlossenes System o<strong>der</strong> Konzept an, son<strong>der</strong>n nur wenig<br />
taugliche Fragmente, die nicht anschlußfähig sind. Diese Funktion übernehmen<br />
nicht selten Lehrerinnen, die das "begabte Auslän<strong>der</strong>mädchen" för<strong>der</strong>n <strong>und</strong> ihm<br />
damit gleichzeitig seinen "objektiven sozialen Platz" durch die Möglichkeit<br />
zuweisen, ihn zu verlassen.<br />
Die Schule selber produziert zahlreiche Situationen, die die Universalismusferne<br />
<strong>der</strong> Mütter aufzeigt <strong>und</strong> erst erzeugt. Bastelnachmittage in <strong>der</strong> Adventszeit,<br />
Schul<strong>aus</strong>flüge <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e gemeinsame Aktivitäten von Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>der</strong>n zum<br />
Beispiel hat Fatima, <strong>der</strong>en Mutter sich noch um kleinere Kin<strong>der</strong> zu kümmern<br />
hatte <strong>und</strong> die von Anfang an nicht einsah, wieso sie ihre Tochter, die schon groß<br />
<strong>und</strong> selbständig ist, in die Schule begleiten soll, stets allein absolviert, dabei<br />
begleitet vom Mitleid <strong>der</strong> Lehrer, an<strong>der</strong>er Eltern <strong>und</strong> Mitschüler. Was hätte sie,<br />
so resümiert Fatima, da auch gesollt, sie hätte sich ohnehin mit keinem<br />
unterhalten können. Diese Situationen markieren das Unzulängliche,<br />
Pflichtvergessene, das sich, festgemacht an <strong>der</strong> Mutter (<strong>der</strong> Vater arbeitet ja), auf<br />
ihre Herkunft, ihre "Zurückgebliebenheit" bezieht. Indem die Mütter die ihnen<br />
zugedachten Agentenfunktion <strong>der</strong> Institution nicht <strong>aus</strong>üben, stellen sie ihre quasi<br />
natürlichen Kompetenzen, ohnehin die einzigen, die sie haben, in Frage. Von <strong>der</strong><br />
definitorischen "Großmacht", die sich auf die eigene Fähigkeit des Erkennens<br />
<strong>und</strong> Ordnens legt, zeugt Fatimas Evaluation, sie sei "eigentlich ja nicht<br />
vernachlässigt" gewesen, weil die Mutter zu H<strong>aus</strong>e ja immer dagewesen sei, da<br />
sei immer alles in Ordnung gewesen.<br />
Die Ansprüche <strong>der</strong> Institution definieren den Mangel <strong>und</strong> konstruieren eine<br />
ethnisch-"sozialschwache" Weiblichkeit, eine beschränkte passive traditionelle<br />
Weiblichkeit als "Gegen-Universum" (Lutz 1999) zu einer mo<strong>der</strong>nen, aktiven<br />
<strong>und</strong> "öffentlichen" Weiblichkeit. Die Mutter <strong>und</strong> <strong>der</strong> Typ von Weiblichkeit, den<br />
sie repräsentiert o<strong>der</strong> den sie zu repräsentieren hat, steht somit, völlig unabhängig<br />
von ihr, im Kontext eines Zivilisationsprojektes. Die Töchter erfassen<br />
das zumeist mehr o<strong>der</strong> weniger intuitiv. Das mag <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> sein für das Schweigen<br />
in den Erzählungen. Das bestätigt sich in einigen Erzählungen, in denen die<br />
Mutter einen zentralen Platz, d.h. einen aktiven <strong>und</strong> positiven Part einnimmt.<br />
Diese Sequenzen, in denen konkrete Situationen geschil<strong>der</strong>t werden, die das<br />
intuitive Wissen auf diese Weise zur Sprache bringen, zielen auf die Reversion<br />
des "öffentlichen" Bildes <strong>der</strong> "Gastarbeiter-Weiblichkeit". Sie bestätigen<br />
zugleich die Macht <strong>der</strong> angelegten Kriterien, indem sie betont Episoden<br />
schil<strong>der</strong>n, in denen die Mütter eigene Interessen <strong>und</strong> die <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> bzw. Töchter<br />
bei Institutionen <strong>und</strong> Ehemännern durchzusetzen verstehen.<br />
Zuweilen klingt aber auch Scham an über die zugewiesene soziale Position.<br />
So jedenfalls könnte man eine Äußerung Aylas interpretieren, die im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Erklärung fällt, daß sie immer mehr türkische als deutsche Fre<strong>und</strong>e gehabt