Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Der türkische Nationalisierungsprozeß <strong>und</strong> <strong>der</strong> Laizismus<br />
dar, die zusehends zur politischen Identität <strong>der</strong> unteren Schicht <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
wird.<br />
Diese Behauptung kann in Anbetracht des Aufstrebens <strong>der</strong> religiösen Bewe-gung<br />
verw<strong>und</strong>erlich anmuten. Es sei jedoch wie<strong>der</strong>holt: Die Religion wird zuse-hends zur<br />
politischen Identität <strong>der</strong> unteren Schicht <strong>der</strong> Bevölkerung. So bedeutet <strong>der</strong><br />
Aufschwung <strong>der</strong> islamischen Bewegung eine fortwährende Schwächung <strong>der</strong><br />
Position <strong>der</strong> Religion als verbindende Überidentität. Zum ersten Mal zie-hen die<br />
Menschen in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> auf <strong>der</strong> politischen Ebene eine Grenze zur Religion, d.h.,<br />
daß die Mehrheit <strong>der</strong> Türken beginnt, ihre religiös geformte Identität abzustreifen,<br />
<strong>und</strong> somit in den wahren "Türkisierungsprozeß" ein-tritt.<br />
Der in diesem Prozeß entstandene <strong>und</strong> erstarkte politische Islam <strong>und</strong> seine<br />
politische Vertretung sind meiner Meinung nach in diesem Sinne das Produkt <strong>der</strong><br />
zweiten Nationalisierungswelle <strong>und</strong> somit <strong>der</strong> türkischen Mo<strong>der</strong>nisierung. Im<br />
Gegensatz zu <strong>der</strong> weitverbreiteten Ansicht, daß die religiöse Partei die Vertreterin<br />
<strong>der</strong> Rückwärtsgewandten innerhalb des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses ist, bin ich <strong>der</strong><br />
Auffassung, daß diese vielmehr eine mo<strong>der</strong>ne Bewegung darstellt, welche das Ziel<br />
verfolgt, Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>und</strong> religiös-kulturelle Tradition miteinan<strong>der</strong> zu<br />
vereinbaren. Das läßt sich auch als Prozeß <strong>der</strong> Überwindung <strong>der</strong> Kluft zu den<br />
religiös-kulturellen Wurzeln beschreiben, die sich mit <strong>der</strong> türkischen Mo<strong>der</strong>nisierung<br />
aufgetan hat. Die Wohlfahrtspartei (jetzt: Tugend-Partei) versucht also, <strong>der</strong><br />
Religion den Stellenwert innerhalb <strong>der</strong> Zivilgesellschaft zu verschaffen, den sie<br />
ihrer Meinung nach verdient.<br />
Welches Ergebnis diese Entwicklung haben wird, ist noch offen. Allerdings<br />
besteht <strong>der</strong> Hauptstreitpunkt zwischen den konkurrierenden Seiten darin, welchen<br />
Platz die Religion auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Zivilgesellschaft einnehmen soll <strong>und</strong> welche<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Religion bezüglich <strong>der</strong> Organisation des alltäglichen (Zusammen-<br />
)Lebens zukommt.<br />
Über die Trennung von Staat <strong>und</strong> Religion besteht trotz aller Kritik <strong>und</strong> vieler<br />
Än<strong>der</strong>ungsvorschläge weitgehend Einigkeit. Es sieht vielmehr danach <strong>aus</strong>, als<br />
würde die eigentliche Debatte über die Organisation des täglichen Lebens <strong>und</strong> die<br />
Rolle, die <strong>der</strong> Religion dabei zukommt, geführt.<br />
Den zweiten Strang des gegenwärtigen Nationalisierungsprozesses stellt die<br />
türkisch-kurdische Auseinan<strong>der</strong>setzung dar. Hierauf möchte ich jedoch in diesem<br />
Beitrag nicht näher eingehen. Es sei hier lediglich festgestellt, daß dieser Konflikt<br />
nur deswegen nicht die Form eines Bürgerkrieges angenommen hat, weil beide<br />
Bevölkerungsgruppen die gleiche Religion besitzen.<br />
Die neu entstehenden Subidentitäten wie Aleviten, Kurden, Laizisten <strong>und</strong><br />
Islamisten versuchen, sich mit Hilfe ihrer neuen Identitäten politisch zu artikulieren.<br />
Ich bin <strong>der</strong> Meinung, daß dies einem gesellschaftlichen Zerfall gleichkommt <strong>und</strong><br />
hier eine ähnliche Situation wie im ersten Nationalisierungsprozeß enstanden ist.<br />
Beide Nationalisierungswellen lassen sich dadurch charakterisieren, daß die<br />
Gesellschaft in die Einzelteile zerfällt, <strong>aus</strong> denen sie besteht. In <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
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