Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Individualisierung <strong>und</strong> Säkularisierung islamischer Religiosität<br />
"Irgendwann hab' ich angefangen, fing so 'ne Art von eh Depression bei mir<br />
an, weil ich, ich hab nicht gewußt, was <strong>der</strong> Sinn <strong>und</strong> <strong>der</strong> Zweck von allem<br />
ist. Es ist, ich fand das sehr traurig, daß ich hier auf <strong>der</strong> Welt bin, weil ich<br />
war damals ehm, ich hab' also, ich weiß nicht, ob ich den Begriff Atheismus<br />
gebrauchen könnte, aber ich hab' einfach an, ehm, kein Leben nach<br />
dem Leben geglaubt, <strong>und</strong> ich ich fand alles ziemlich lustlos, was ich<br />
mache. Ich geh' zur Schule, ich hab' immer, ich hab' damals, ich weiß<br />
noch ganz genau, was ich damals als Stellungnahme zu 3Nathan <strong>der</strong><br />
Weise3 geschrieben hatte, wie ehm hatt' ich da geschrieben mh: Im Leben,<br />
das Leben ist so, daß man versucht, etwas zu erreichen, <strong>und</strong> wenn man's<br />
hat, ist man für den Augenblick befriedigt, aber dann fängt man mit einer<br />
neuen Suche an, zum Beispiel, man möchte das Abitur schaffen, sagen<br />
wir mal, ja? Man man möchte halt ... Man möchte viel reisen, aber: Im<br />
Endeffekt ist man immer unzufrieden. Es ist einfach so 'ne Art Lüge für<br />
einen selber ... denke ich, hab' ich damals geglaubt, <strong>und</strong> ehm irgendwie<br />
kam ich, ich wußte nicht, warum ich überhaupt mich anstrengen sollte,<br />
warum ich überhaupt irgendwie leben sollte, das hat mir alles irgendwie,<br />
<strong>und</strong> ehm ich hab' auch mich sehr dann stark mit dem Tod beschäftigt,<br />
weil, ich weiß noch, zu <strong>der</strong> Zeit hab' ich viel Tagebücher <strong>und</strong> so weiter<br />
geschrieben, weil irgendwie, mich hat das sehr stark beschäftigt."<br />
Ayla spitzt die Krise in dieser Sequenz daraufhin zu, daß als Ausweg <strong>aus</strong><br />
dieser Orientierungslosigkeit nur noch eine solche Antwort möglich wird, die<br />
über das Momenthafte <strong>und</strong> Vergängliche des Lebens Gültigkeit beanspruchen<br />
kann. Der Islam war ihr zu dieser Zeit als mögliche Antwort noch nicht im<br />
Blick gewesen. Und sie kritisiert, daß sie in dieser Phase we<strong>der</strong> durch die<br />
Lehrer noch durch die Eltern Hilfe erfahren habe.<br />
Mit etwa 16 Jahren - das gleiche Jahr, in dem sie dann das Kopftuch anlegte<br />
- habe sie dann eine "sehr intensive Phase" durchlebt, in <strong>der</strong> sie sich aktiv mit<br />
"Glauben" <strong>und</strong> dem "Leben nach dem Tod" beschäftigt habe. Der Anstoß für<br />
eine solche Verän<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Beschäftigung mit dem Islam sei von <strong>der</strong> Schule<br />
gekommen. Ayla sollte ein Referat zum Thema "Die Rolle <strong>der</strong> Frau im Islam"<br />
halten. Dadurch habe sie begonnen, sich mit dem Islam zu beschäftigen, über<br />
die Inhalte des Islam etwas nachzulesen. Dabei sei sie immer wie<strong>der</strong> auf ihr<br />
Unbekanntes <strong>und</strong> Neues gestoßen. So habe sie schon damals im Referat unterschieden<br />
zwischen "Tradition" <strong>und</strong> "Islam". Ayla fügt in ihrer Erzählung noch<br />
eine dritte Unterscheidung ein: den "traditionellen Islam". Diese letzte Unterscheidung<br />
benutzt sie heute zur negativen Bezeichnung des unreflektierten<br />
Islam <strong>der</strong> Elterngeneration. Islam <strong>und</strong> auch Tradition, sofern sie "echt" ist, sind<br />
ihr heute positive Begriffe. Ayla verknüpft an<strong>der</strong>s als Mihriban ihr durch das<br />
Referat entstandenes Interesse am Islam nicht an konkrete Neuentdeckungen<br />
über die Rolle <strong>der</strong> Frau, obwohl sie von Auseinan<strong>der</strong>setzungen darüber mit<br />
ihrem Vater erzählt <strong>und</strong> ihr diese Problematik heute sehr wichtig sei.<br />
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