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Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...

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Heiner Bielefeldt<br />

tion, in <strong>der</strong> Religion ihre jeweilige historische Gestalt gewinnt, ermöglicht eine<br />

kritische Abstandnahme auch von traditionellen Rollenerwartungen - beispielsweise<br />

im Namen des "wahren Islam". Die kritische Differenz zwischen "traditionellem<br />

Islam" <strong>und</strong> "wahrem Islam" ist für das Selbstverständnis junger<br />

muslimischer Frauen in <strong>der</strong> Tat entscheidend. Die durch diese Differenz<br />

ermöglichte individuelle religiöse Selbstbestimmung kann soweit gehen, daß<br />

eine muslimische Frau sich einerseits bewußt dafür entscheidet, das Kopftuch<br />

zu tragen, <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits - gegen die Tradition - die Heirat mit einem nichtmuslimischen<br />

Mann erwägt (vgl. Grit Klinkhammer).<br />

Ich möchte meine Anmerkungen schließen mit dem Hinweis auf einen<br />

Denker, <strong>der</strong> zur Debatte über <strong>Kern</strong> <strong>und</strong> <strong>Rand</strong> wichtige Einsichten beitragen<br />

könnte, aber lei<strong>der</strong> weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Es handelt sich um<br />

Helmuth Plessner, einen <strong>der</strong> Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> philosophischen Anthropologie<br />

des zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts. Als Jude mußte er in <strong>der</strong> Nazi-Zeit <strong>aus</strong><br />

Deutschland fliehen <strong>und</strong> lebte längere Zeit im Exil, zunächst in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> <strong>und</strong><br />

dann in den Nie<strong>der</strong>landen. Plessner beschreibt die conditio humana als<br />

"exzentrische Zentrizität": Der Mensch, <strong>der</strong> einerseits das <strong>Zentrum</strong> seiner<br />

jeweiligen Umwelt bildet, bringt sich an<strong>der</strong>erseits durch seine virtuell unbegrenzte<br />

Reflexivität immer wie<strong>der</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Mitte, auf die er sich zugleich stets<br />

aufs neue beziehen muß. Er ist zentrisch <strong>und</strong> exzentrisch zugleich. We<strong>der</strong> ruht<br />

er ganz in sich, in seinem <strong>Zentrum</strong>, noch kann er ganz außerhalb seiner Mitte<br />

leben; denn selbst die Reflexion kann nur ansetzen als reflexive Abstandnahme<br />

von einer Mitte, die dadurch in die Schwebe gerät, aber nicht verschwindet.<br />

Die paradoxe Verschränkung von Zentrizität <strong>und</strong> Exzentrizität spiegelt sich<br />

nach Plessner als unauflöslicher Konflikt zwischen Vertrautheit <strong>und</strong><br />

Fremdheit, die nicht zwei geschlossene, unverän<strong>der</strong>liche Sphären bilden,<br />

son<strong>der</strong>n auch ihrerseits paradox ineinan<strong>der</strong> verwoben sind <strong>und</strong> sich deshalb<br />

ständig verschieben. In <strong>der</strong> Begegnung mit dem Fremden erfährt <strong>der</strong> Mensch<br />

die Kontingenz auch des Eigenen, von dem er sich dadurch entfremdet, ohne es<br />

einfach preisgeben zu können. Und umgekehrt öffnet sich <strong>der</strong> Mensch in <strong>der</strong><br />

reflexiven Abstandnahme vom Eigenen für unabsehbare fremde Möglichkeiten,<br />

die dennoch nicht allesamt verfügbar werden. Die Grenze zwischen<br />

Vertrautheit <strong>und</strong> Fremdheit bleibt bestehen <strong>und</strong> wird zugleich beweglich. Im<br />

konkreten kommunikativen Durchbruch wird die Grenze in ihrer Kontingenz<br />

durchsichtig, ohne jemals ganz zu verschwinden.<br />

In exzentrischer Zentrizität muß <strong>der</strong> Mensch um seine Identität ringen, <strong>und</strong><br />

zwar als Individuum wie in Gemeinschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Es geht bei diesem<br />

Ringen nicht um eine lapidare "Bastelei" an <strong>der</strong> privaten Biographie, wie<br />

soziologische Feuilletonisten neuerdings gerne sagen. Vielmehr ist die Suche<br />

nach <strong>der</strong> eigenen Identität, d.h. nach dem, was man "eigentlich" schon ist <strong>und</strong><br />

nur deshalb selbstbestimmt werden kann, eine ernste Auseinan<strong>der</strong>setzung, die<br />

ohne Konflikte nicht denkbar ist <strong>und</strong> stets mit dem Risiko des Scheiterns

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