Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Neue Islamische Weiblichkeit als Alternative<br />
Eine unumkehrbare Kluft eröffnet sich zwischen <strong>der</strong> Lehrerin, <strong>der</strong> Agentin<br />
<strong>der</strong> Institution <strong>und</strong> des Universalismus <strong>und</strong> <strong>der</strong> Jugendlichen, die plötzlich eine<br />
partikularistische Praktik einführt. Die Ungleichheitsebene verdoppelt sich. Das<br />
Autoritätsgefälle verbindet sich mit einem Kulturgefälle. Und es setzt genau da<br />
an, wo die Vorstellungen von Weiblichkeit ins Spiel kommen. Aylas Selbstverständnis<br />
von sich als eine, die weiß, was sie will, <strong>und</strong> die durchsetzt, was sie<br />
will, bekommt einen <strong>der</strong>ben Schlag. Sie versteht diesen Umschwung nicht, weil<br />
sich <strong>aus</strong> ihrer Perspektive an ihrer Person nichts än<strong>der</strong>t. In <strong>der</strong> Erzählung<br />
wechselt sie das Thema, indem sie ihre Leistungserfolge des folgenden Schuljahres<br />
schil<strong>der</strong>t. Aber es ist eine Lektion, die sie nicht vergißt, son<strong>der</strong>n sie greift<br />
zu dem bereits beschriebenen Mittel <strong>der</strong> Selbstbehauptung: sie schlägt zurück.<br />
Drei Jahre später, als sie die Schule wechselt, führt sie sich vom ersten Tag an<br />
unübersehbar als Muslima, inzwischen mit einem großen Kopftuch zu sorgfältig<br />
<strong>aus</strong>gewählter modischer Kleidung (u.a. pinkfarbene Schuhe <strong>und</strong> Handtasche)<br />
ein. Ihre detaillierte Beschreibung <strong>der</strong> Eintrittsszene vermittelt den Eindruck<br />
einer geplanten <strong>und</strong> gelungenen Inszenierung. Zudem hat sie sich gut<br />
vorbereitet. Sie kann jetzt flüssig <strong>und</strong> pl<strong>aus</strong>ibel erklären, warum sie das<br />
Kopftuch trägt, <strong>und</strong> sie hat das Gr<strong>und</strong>gesetz dabei, um bei möglichen Einwänden<br />
ihr Recht auf Religionsfreiheit zu zitieren.<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> öffentlichen pädagogischen Institutionen, die kulturell unterschiedliche<br />
Lebenswelten zusammenführen, sie in <strong>der</strong> Gegeneinan<strong>der</strong>stellung<br />
wie auch im Verhältnis zu universalistischen Formen deutlich hervortreten<br />
lassen <strong>und</strong> habituelle Details korrigieren 4 , konkretisiert sich das defizitäre<br />
"Auslän<strong>der</strong>mädchen" im Vergleich (Nökel 1997). Insofern bildet die Schule mit<br />
ihren systematischen bio-politischen Homogenisierungs- <strong>und</strong> Normalisierungsmechanismen<br />
(Foucault) einen sehr wesentlichen Ort <strong>der</strong> Her<strong>aus</strong>bildung<br />
<strong>der</strong> Selbstidentität durch Vergleich <strong>und</strong> Konkurrenz. Sie ist ein Ort <strong>der</strong><br />
Bewährung <strong>und</strong> Bestätigung. Das zeigt sich in Evaluationen, wie "es trotzdem<br />
geschafft zu haben", trotz all <strong>der</strong> Hin<strong>der</strong>nisse <strong>und</strong> Defizite hinsichtlich Sprache,<br />
Informationen, Herkunft, <strong>und</strong> zwar <strong>aus</strong> eigener Kraft, durch eigenen Fleiß <strong>und</strong><br />
eigene Beharrlichkeit.<br />
Die negative Weiblichkeit <strong>der</strong> Mütter<br />
Ayla führt in ihre Erzählung zwei Personen ein, die sie als maßgeblich für ihre<br />
Entwicklung betrachtet: <strong>der</strong> Vater <strong>und</strong> die Lehrerin. Beide haben sie, ihrem<br />
Verständnis nach weitsichtig das för<strong>der</strong>nd, was in ihr sowieso schon keimte,<br />
davor bewahrt, dem Klischee vom türkischen Mädchen zu entsprechen. Der<br />
Vater hat ihr, als sie noch ein Kind war, sozusagen den Gr<strong>und</strong>stein legend, Mut<br />
gemacht, sich draußen, gegen an<strong>der</strong>e, stets zu verteidigen <strong>und</strong> Position zu<br />
gewinnen statt sich sofort jammernd zurückzuziehen.<br />
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