Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
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Dursun Tan<br />
werden. Die Gebete werden in Türkisch gesungen o<strong>der</strong> gesprochen, nicht - wie<br />
im orthodoxen Islam üblich - in <strong>der</strong> Koransprache, d.h. in Arabisch. Vor <strong>der</strong><br />
Zeremonie müssen alle Streitigkeiten vor einem öffentlichen Tribunal<br />
geschlichtet worden sein. Abschließend findet ein gemeinsames Mahl statt.<br />
Die Türschwelle des H<strong>aus</strong>es gilt symbolisch als die Grenze zwischen dem<br />
Profanen <strong>und</strong> dem Sakralen, synonym für Außen <strong>und</strong> Innen bzw. Fremdes <strong>und</strong><br />
Eigenes. Beim Übertreten <strong>der</strong> Schwelle wird diese von vielen geküßt. Das<br />
Küssen <strong>der</strong> Schwelle stellt eine Weihe dar, ähnlich dem Weihwasser im Christentum<br />
o<strong>der</strong> auch dem Küssen des Erdbodens auf Flughäfen durch Papst<br />
Johannes-Paul II. 6 Die Betenden wenden sich während des ayin-i cem nicht in<br />
Richtung Mekka, son<strong>der</strong>n sitzen sich gegenüber. Nach ihrer Auffassung hat Gott<br />
im Menschen das Ideal seiner Schöpfung verwirklicht (KarakaÕo—lu 1997: 44).<br />
Daher erachten sie auch die Wallfahrt nach Mekka nicht als sehr dringlich. Nicht<br />
zu einem Stein, son<strong>der</strong>n zum inneren Selbst sollst du pilgern, um Gott zu<br />
erfahren, lautet ihre Devise. Da für Aleviten <strong>der</strong> Sinn des Korans, nicht seine<br />
Buchstaben, entscheidend ist, tendiert das Alevitum zur Hermeneutik <strong>und</strong><br />
mündet schließlich in <strong>der</strong> Philosophie, denn <strong>der</strong> Sinn <strong>der</strong> Gottesbotschaft muß<br />
jedesmal neu erschlossen werden. Da die allgemeingültigen Deutungsmuster<br />
aber zu je<strong>der</strong> Zeit an<strong>der</strong>e sind, fallen auch die Interpretationen jeweils an<strong>der</strong>s<br />
<strong>aus</strong>. Das ist möglicherweise <strong>der</strong> <strong>Kern</strong> <strong>der</strong> vielbeschworenen Progressivität <strong>und</strong><br />
Adaptionsfähigkeit des Alevitums, was es zwar strukturell <strong>und</strong>ogmatisch macht,<br />
an<strong>der</strong>erseits jedoch die Grenzziehung zu seiner Umwelt erschwert.<br />
Das Fasten<br />
Aleviten fasten nicht im Fastenmonat Ramadan, son<strong>der</strong>n im Monat Muharrem,<br />
dem Monat, in dem <strong>der</strong> Überlieferung nach Imam Hussein, einer <strong>der</strong> zwei Söhne<br />
des Vierten Khalifen Ali, <strong>und</strong> seine Nachkommen in Kerbela (im heutigen Irak<br />
gelegen) den Märtyrertod starben. Historisch nachweisbar ist lediglich <strong>der</strong> Tod<br />
von Imam Hussein. Der Anzahl <strong>der</strong> zwölf Imame entsprechend beträgt die<br />
Fastenzeit zwölf Tage, die allerdings als Vollfasten erbracht <strong>und</strong> häufig von<br />
Selbstgeißelung begleitet wird. (Extrembeispiele für Selbstgeißelungen sind in<br />
Iran, Pakistan <strong>und</strong> Aserbaidschan zu finden.) Während im Ramadan nach dem<br />
Sonnenuntergang Nahrungsaufnahme, Flüssigkeitszufuhr, sexuelle Aktivität <strong>und</strong><br />
Körperpflege erlaubt sind, sind all diese während <strong>der</strong> zwölf Tage des Muharrem<br />
völlig tabu. Im Gegensatz zum Fasten während des Ramadan verfügt das Fasten<br />
im Muharrem über eine kognitiv-emotionale Begründung <strong>und</strong> hat eine konkrethistorische<br />
Entwicklungsgeschichte. Es wird des Martyriums in Kerbela <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
zwölf Imame gedacht, <strong>der</strong>en Leid symbolisch durch Einstellen aller<br />
Lebensaktivitäten, real durch Selbstgeißelung, geteilt wird. Die Aleviten halten<br />
auch die für die orthodoxen Muslime üblichen rituellen Waschungen nicht ein,