Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei - Zentrum ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
74<br />
Dursun Tan<br />
sprechend seiner politischen Ziele zu instrumentalisieren, eine Vorgehensweise,<br />
die sich bis in die osmanisch-persische Zeit zurückverfolgen läßt. Die Aleviten<br />
scheinen - wenn auch nur teilweise - <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Geschichte gelernt zu haben. Zwar<br />
tendieren sie nach wie vor zur Linken, jedoch organisieren sie sich inzwischen<br />
auch separat <strong>und</strong> wollen sich nicht mehr auf eine Richtung o<strong>der</strong> Partei festlegen.<br />
Sie sind sehr empfindlich gegenüber Vereinnahmungsversuchen geworden.<br />
Zur strukturellen Säkularisierung des Alevitums:<br />
Die Dorf-Stadt-Migration<br />
Erste Auflösungserscheinungen zeigten sich im Alevitum bereits Anfang dieses<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts, insbeson<strong>der</strong>e in Folge <strong>der</strong> Republiksgründung. "Der Bau von<br />
Straßen durch ehemalige Rückzugsgebiete, die Einführung <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Schulpflicht <strong>und</strong> die Verbesserung <strong>der</strong> Kommunikationssysteme brachten die<br />
Aleviten in immer stärkere Berührung mit <strong>der</strong> Außenwelt" (Kehl-Bodrogi 1993:<br />
269). Trotz <strong>der</strong> kemalistischen Säkularisierungspolitik hat <strong>der</strong> Druck des<br />
sunnitischen Umfelds auf die Aleviten nicht ab-, son<strong>der</strong>n eher noch zugenommen.<br />
Hier muß man strikt zwischen <strong>der</strong> kemalistischen Politik <strong>und</strong> den unintendierten<br />
Folgen <strong>der</strong> Politik für die Alltagsrealität trennen. Die kemalistische<br />
Säkularisierungspolitik hat entgegen den Erwartungen nicht zum Bedeutungsverlust<br />
<strong>der</strong> Religion im Alltag geführt, son<strong>der</strong>n zum einen zur Verstaatlichung<br />
<strong>der</strong> Religion <strong>und</strong> damit zusammenhängend zum stillen Aufstieg <strong>der</strong><br />
sunnitisch-hanefitischen Auffassung des Islam zur nichterklärten Staatsreligion<br />
<strong>und</strong> zum an<strong>der</strong>en zur Verdrängung volkstümlicher Vorstellungen von Religion<br />
<strong>und</strong> damit auch heterodoxer Richtungen wie des Alevitums in den Untergr<strong>und</strong>.<br />
Von dort setzte ein Prozeß ein, "in dessen Folge sich Binnenstruktur, religiöse<br />
Praxis <strong>und</strong> nicht zuletzt das kollektive Selbstverständnis <strong>der</strong> Gemeinschaft<br />
gr<strong>und</strong>legend verän<strong>der</strong>n sollten. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die<br />
massenhafte Abwan<strong>der</strong>ung von Alevi in die Städte, die im Zuge <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Landflucht in <strong>der</strong> <strong>Türkei</strong> zwischen 1948 <strong>und</strong> 1956 einsetzte" (Kehl-Bodrogi<br />
1993: 269). Unter Bedingungen städtischen Lebens <strong>und</strong> marginalen Daseins<br />
inmitten eines dominanten sunnitischen Islam ließen sich die traditionellen<br />
Gemeinschaftsformen, die auf dörfliches <strong>und</strong> endogames Leben abgestimmt<br />
waren, nicht mehr aufrechterhalten. Dies hatte eine "strukturelle Säkularisation"<br />
zur Folge, "d.h., daß wichtige Bereiche des sozialen Lebens <strong>der</strong> Einflußsphäre<br />
religiöser Institutionen entzogen wurden". Kehl-Bodrogi vertritt die Ansicht, daß<br />
es mit <strong>der</strong> Auflösung <strong>der</strong> dörflichen Strukturen beinahe zum vollständigen<br />
Verschwinden <strong>der</strong> Institution <strong>der</strong> Wegbru<strong>der</strong>schaft (müsahiplik) kam. Diese<br />
Einschätzung kann ich nicht ganz teilen. Meines Erachtens führte sie zu einem<br />
Bedeutungswandel dieser Institution, nicht aber zu ihrem völligen<br />
Verschwinden. Das gilt auch für die Diaspora in Europa. Die Institution <strong>der</strong>